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Pantheon — 1.1928 = Jg 1.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.57094#0095

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DAS TRISTANKÄSTCHEN DER EREMITAGE

VON OTTO VON FALKE

Die französische Elfenbeinschnitzerei der Gotik hat
in dem großen Werk von Raymond Koechlin „Les
Ivoires Gothiques fran^ais,“ das seit 1924 in drei
Bänden vorliegt, eine so vollendete kunstgeschicht-
liche Darstellung erhalten, wie sie noch keinem an-
deren Zweig des gotischen Kunsthandwerks zuteil
geworden ist. Über 1300 französische Elfenbein-
werke, in vieljähriger Vorarbeit aufgesucht und be-
schrieben, sind der stilgeschichtlichen Entwicklung
folgend geordnet und nach Möglichkeit in Atelier-
gruppen zusammengestellt und ikonographisch er-
läutert; 500 Abbildungen geben uns, dank der sorg-
fältigen Auswahl der wichtigsten Denkmäler, einen
Überblick des geistigen und formalen Umfanges
dieses im 13. und 14. Jahrhundert blühenden Kunst-
zweiges. Einem so abschließenden, auf unvergleich-
licher Sachkunde beruhenden Werke gegenüber
scheint es unbescheiden, in einer Echtheitsfrage eine
abweichende Meinung auszusprechen,deren Begrün-
dung auch nur mit Hilfe der Forschungsergebnisse
Koechlinsmöglichist. Eshandeltsichjedochbeidem
Tristankästchen (Abb. 1—5), dessen Photographien
ich der Güte des Konservators am Museum derEremi-
tage in Leningrad, Herrn A. Cube, verdanke, nicht nur
um die Rettung eines der feinsten und eigenartigsten
Stücke aus dem Kreis der profanen Elfenbeinwerke,
sondern auch um die für andere Kunstzweige ebenso
wichtige Frage, ob schon im Klassizismus des frühen
19. Jahrhunderts Fälschungen im gotischen Stil des
14. Jahrhunderts von solcher Vollendung möglich
gewesen sind, daß sie bis heut nach hundert Jahren
noch nicht mit Bestimmtheit als falsch erwiesen
werden können. Die Tatsache, daß Koechlin das
Kästchen, das er anfänglich als etrangement suspect
bezeichnet (I S. 497), dann aber nach ausführlicher
Besprechung und Stilprüfung (I S.520) doch rund-
weg als Ganzes verwirft, dennoch in seinen Tafel-
band (Fl. 225) allseitig aufgenommen hat, berechtigt
einigermaßen den Versuch, die Frage durch die
Scheidung des echten und des falschen Teils zu ent-
scheiden.
Das Kästchen der Eremitage mit acht Bildern aus der
Tristansage unterscheidet sich von allen anderen
Elfenbeinkästchen auf den ersten Blick durch die

Einordnung aller Reliefs in Vierpässe,die dem Meister
die Komposition seiner zum Teil figurenreichen
Szenen keineswegs erleichtert hat. Die Vierpaßrah-
mung war den französischen Elfenbeinschnitzern
während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und
darüber hinaus auch sonst geläufig, wie das an zwei
Diptychen im Louvre (Koechlin III, Tafel 77, 142)
und einem dritten im Katalog Gilbert, Paris 1927,
Nr. 67 und mehreren Spiegelkapseln zu ersehen ist.
Auf dem Kästchen des Louvre mit der Liebesge-
schichte der Chätelaine de Vergi (Koechlin Taf. 222)
erscheinenVierpässe in den Seitenfeldern desDeckels,
auf dem Vergikästchen des Britischen Museums sind
alle acht Deckelbilder vierpassig gerahmt (Dalton,
Cat. Ivory carvings T. 84). In der allseitig durch-
geführten Bindung der ganzen Komposition in Vier-
paßfelder aber steht das Tristankästchen ganz allein;
es ist wenig wahrscheinlich, daß ein Fälscher, statt
dem bequemen Vorbild der zahlreichen Kästchen
mit rechteckigen Bildfeldern zu folgen, sich ohne
Not den Zwang der durchgehenden Vierpaßrah-
mung auferlegt hätte.
Die Episoden der Tristandichtung sind mit aner-
kennenswerter Kunst der Raumfüllung — mit Aus-
nahme der zwei Deckelbilder — entworfen und in
sehr eingehender, weich geglätteter Modellierung
durchgeführt, wofür besonders die Draperie in den
beiden Schlafzimmerszenen Zeugnis ablegt. In denajranh
Köpfen macht sich die Absicht bemerkbar, ver-
schiedene Typen zu schaffen, und vielleicht auch
den Ausdruck der Situation entsprechend heraus
zubringen.
Die Erzählung beginnt der französischen Tristan-
dichtung von Beroul folgend auf der Vorderwand
(Abb. 1) mit der Seefahrt von Irland nach Korn-
wallis, wobei Tristan der gekrönten Isolde den
Becher mit dem Zaubertrank reicht, den die beim
Steuermann stehende Brangäne in einem Fäßchen
mitgeführt hat. Der enge Raum unter dem für das
Schloßblech ausgesparten Kompartiment ist benützt
für die Landung, wie Tristan in seinen Armen Isolde
vom Bord aufs Ufer trägt. Im nächsten Vierpaß
empfängt König Marke mit Handschlag die vom
Mantel umhüllte Braut; hinter ihr Tristan und Bran-

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