Gewand und Plastik.
Antike. Einfach deshalb, weil bcim trikotähnlichen Über-
zug das Gewand negiert ist, es bildet nur eine neue
Art Epidermis. Eine andere Art der Nacktheit, könnte
es durch einen farbigen Anstrich ersetzt werden. Die
Figur mag sehr plastisch ausdrucksvoll sein, aber sie ist
keine plastische Gewandfigur. Das durchsichtige Ge-
wand der Antikc, das nasse Gewand der Nereiden vom
Nereidendenkmal, der Nike von Samothrake, der Flora
Farnese wirkt aber durch den malerischen Effekt der
Durchsichtigkeit oder durch SinneSgesühle: den Reiz des
Halbverhüllten und Überraschenden, deö Naffen und
seiner Berührungsgefühle auf der Haut.
Die eigentlich plastischen Gewandmotive haben wir
im gotischen Mittelalter zu suchen, in der nordischen
Kunst, und zu einer Ieit, die, sei es aus klimatischen
oder religiösen Motiven, dem nackten Körpcr nur ein
sehr beschränktes Recht in der statuarischen Kunst ge-
stattete. Indem die Gotik die Ungunst des formlosen,
der Ione, in der der Wille wirkt, weiter entrückten
Stoffes überwand und ihn als von innen organisierbar
und plastisch auSdrucksvoll zu gestalten wußte, bekundete
sie den plastischen Sinn und Formendrang stärker, als
wenn sie sich ihrer eigenen Lcbensbedingungen ent-
äußert und das dem Norden sremdere Motiv des
nackten Körpcrs ausgenommen hätte.
Das Gewand, das von innen heraus, durch den
Willen der Figur belebt werden und Form gewinnen
soll, dars kein vom Schneider gefertigter Anzug sein,
den man anzieht und um den man sich, wenn er sitzt,
nicht mehr zu kümmern braucht. Unsere Männertracht
gewährt diese Bequemlichkeit, daß sie keine besondere
Art, sie zu tragen, vorauösetzt. Je weniger Form aber
ein Klcid von selbst hat, und je mehr es seinem Trägcr
die Möglichkeit bietet, ihm Form mitzuteilen durch die
Art, wie er sich hült und bcwegt und daö Gewand
trägt, um so dankbarer wird es sür plastische Funktion.
Heute finden sich diese plastischen Motive noch ver-
einzelt, z. B. wenn eine Dame ihr Kleid rasft und
Grazie oder Tölpelei, Sicherheit oder Ungeschick sich
nicht nur in der Führung des Armes kundgibt, sondern
auch in der Form und im Fall deö zur Seite ge-
nommenen Rockeö. Ein Tuch, daS die Figur um Kopf
und Schultern wirft und über die Arme legt, kann
ordentlich und unordentlich, symmctrisch und affym-
metrisch liegen und für den einen sich als läftige Fessel
der Arme störend bemerkbar machen, für den andern
ein erwünschter Anlaß werden, dem herabwallenden
Tuch vermittelst der Haltung und Bewegung der Arme
Form zu wahren und einen interessanten und wechseln-
den Bewegungsrhythmus mitzuteilen. Ganz zum Be-
wegung lähmenden, ungeheuer lästigen Anhängsel — sür
Ungeschickte — oder zum Mittel, alle Direktionskunst
an diesem schwcren nachschleppenden Stoff zu zeigen,
wird das Hauptstück plastisch organisierbarer Tracht, die
Schleppe. Sie ist deöhalb Gelegenheiten vorbehalten,
an denen der Mensch als körperliche Erscheinung sich
mit sich und allem, waS er an hat, beschästigen darf,
oder Gesellschastskreisen, denen die Fähigkeit "sich sicher
zu bewegen ancrzogen ist. Es ist eine höfische Tracht.
Die Gotik liebte auch bei Männern den weiten
saltigen Rock, offenbar, damit in der Bildung dieser
Falten dem Willen der Figur Verfügbarkeit über die
Formen des Gewandes bliebe. Das Meßgewand der
Bischöse, die Casula, ist nichtö weiter, als ein nach unten
sich verbreiterndes Stück Zcug, oben mit einem Loch,
den Hals hindurchzustecken. Aus steiser Masse be-
stehend würde die Casula einen nach unten sich stark
verbreiternden Trichter darstellen. Jn weichem Stoff
dagegen sallen diese Wandungen des Trichters formlos
zusammen. Also selbst wieder so formlos als möglich,
gewinnt dieseö wie ein Sack über den Oberkörper
fallende Kleid dadurch eine reiche und schöne Form,
daß ihre Träger die Casula mit beiden Armen erheben,
und es wie ein Tuch über die Arme herübcr und
zwischen den Armen herunter sallen lassen. Die ge-
rundeten, nach unten sich immer stärker verwölbenden
und immer tieser ausbuchtenden Falten schaffen eine
Gewandsläche, in der rhythmische Form und Bewegung
in gleichmäßig bcschleunigtem Tempo einen vollen Er-
satz bieten sür Pracht und Prunk des Stoffes. Eine
durchgeführte Proportionalität herrscht zwischen Falten-
höhe, Faltenweitc und -Tiefe deö Falles. Durch Wechsel
in Anzahl, Höhe, Form, Krümmungsradius, durch
engeres oder weiteres Auseinanderhalten, Heben oder
Senken und ungleiche oder gleichmäßige Lage der Arme
läßt sich das Motiv mannigsach genug variieren.
Beim mittelalterlichen Mantel steigert sich die
Schwierigkeit in dem Maße, als dieses sormlose Stück
Ieug an Größe zunimmt und jeglichen Schnittes ent-
behrt. Ein rechteckiges Stück Tuch, unzugerichtet wie
ein Tischtuch oder Bettlaken, wird es zum Gewand
erst, wenn dic Figur es anlegt und trägt.
Und nun kommt alles darauf an, wie die Figur
den Stoff dirigiert, wenn sie ihn über Kopf oder
Schultern und Arme wirft, das eine Ende emporrafft
und über den Arm sallen läßt. Die Formen, die der
Stoff bildet, die Falten nämlich, sind in ihrer klar
bestimmten Gestalt, ihrer Zügigkeit und ihrem Rhythmus
der Prüsstein dasür, wie weit die Figur mit ihrem
Willen über dieses schwer plastisierbare Material ver-
sügt. An sich ist ja dieser sormlose Sack beständig in
Gefahr, in unberechneten und unberechenbaren Falten
sich zu zerknüllen und in häßliche Verwirrung zu ge-
raten. Am nackten Körper ist das plastisierbare Mate-
rial, das aus schlaffer in seste Form übergeführt werden
kann, die Muskulatur. Jndem die Gewandfalten Wille
oder Haltlosigkeit, Energie oder Schwäche ausdrücken,
werden sie Organ und Anzeiger der körperlichen Funk-
tioncn des Menschen, werden sie das, was am nackten
Körper die Muskeln sind. Jn der Art, wie sie sich
schwächer oder ftärker runden, sich abflachen oder
schwellen, wie sie in fester Form ftehen oder in sich
zusammensinken, drücken sie einen bestimmten Grad
aktueller oder potenzieller Energie aus.
Jndem sich die Falten in plastisch gerundeter Form
zu langen Iügen ausdehnen, die sich beugen oder
ftrecken, heben und senken, sich in die Richtung der
Schwerlinie einstellen oder schräg zu ihr ftellen und ge-
geschmeidig nachschleifen können, machen sie aus dem
mit Gewand umwundenen einheitlichen Körper einen
gegliederten Organismus. Jn ihrer stabartigen Bil-
dung von bestimmter Form gleichen sie ausrechten
Antike. Einfach deshalb, weil bcim trikotähnlichen Über-
zug das Gewand negiert ist, es bildet nur eine neue
Art Epidermis. Eine andere Art der Nacktheit, könnte
es durch einen farbigen Anstrich ersetzt werden. Die
Figur mag sehr plastisch ausdrucksvoll sein, aber sie ist
keine plastische Gewandfigur. Das durchsichtige Ge-
wand der Antikc, das nasse Gewand der Nereiden vom
Nereidendenkmal, der Nike von Samothrake, der Flora
Farnese wirkt aber durch den malerischen Effekt der
Durchsichtigkeit oder durch SinneSgesühle: den Reiz des
Halbverhüllten und Überraschenden, deö Naffen und
seiner Berührungsgefühle auf der Haut.
Die eigentlich plastischen Gewandmotive haben wir
im gotischen Mittelalter zu suchen, in der nordischen
Kunst, und zu einer Ieit, die, sei es aus klimatischen
oder religiösen Motiven, dem nackten Körpcr nur ein
sehr beschränktes Recht in der statuarischen Kunst ge-
stattete. Indem die Gotik die Ungunst des formlosen,
der Ione, in der der Wille wirkt, weiter entrückten
Stoffes überwand und ihn als von innen organisierbar
und plastisch auSdrucksvoll zu gestalten wußte, bekundete
sie den plastischen Sinn und Formendrang stärker, als
wenn sie sich ihrer eigenen Lcbensbedingungen ent-
äußert und das dem Norden sremdere Motiv des
nackten Körpcrs ausgenommen hätte.
Das Gewand, das von innen heraus, durch den
Willen der Figur belebt werden und Form gewinnen
soll, dars kein vom Schneider gefertigter Anzug sein,
den man anzieht und um den man sich, wenn er sitzt,
nicht mehr zu kümmern braucht. Unsere Männertracht
gewährt diese Bequemlichkeit, daß sie keine besondere
Art, sie zu tragen, vorauösetzt. Je weniger Form aber
ein Klcid von selbst hat, und je mehr es seinem Trägcr
die Möglichkeit bietet, ihm Form mitzuteilen durch die
Art, wie er sich hült und bcwegt und daö Gewand
trägt, um so dankbarer wird es sür plastische Funktion.
Heute finden sich diese plastischen Motive noch ver-
einzelt, z. B. wenn eine Dame ihr Kleid rasft und
Grazie oder Tölpelei, Sicherheit oder Ungeschick sich
nicht nur in der Führung des Armes kundgibt, sondern
auch in der Form und im Fall deö zur Seite ge-
nommenen Rockeö. Ein Tuch, daS die Figur um Kopf
und Schultern wirft und über die Arme legt, kann
ordentlich und unordentlich, symmctrisch und affym-
metrisch liegen und für den einen sich als läftige Fessel
der Arme störend bemerkbar machen, für den andern
ein erwünschter Anlaß werden, dem herabwallenden
Tuch vermittelst der Haltung und Bewegung der Arme
Form zu wahren und einen interessanten und wechseln-
den Bewegungsrhythmus mitzuteilen. Ganz zum Be-
wegung lähmenden, ungeheuer lästigen Anhängsel — sür
Ungeschickte — oder zum Mittel, alle Direktionskunst
an diesem schwcren nachschleppenden Stoff zu zeigen,
wird das Hauptstück plastisch organisierbarer Tracht, die
Schleppe. Sie ist deöhalb Gelegenheiten vorbehalten,
an denen der Mensch als körperliche Erscheinung sich
mit sich und allem, waS er an hat, beschästigen darf,
oder Gesellschastskreisen, denen die Fähigkeit "sich sicher
zu bewegen ancrzogen ist. Es ist eine höfische Tracht.
Die Gotik liebte auch bei Männern den weiten
saltigen Rock, offenbar, damit in der Bildung dieser
Falten dem Willen der Figur Verfügbarkeit über die
Formen des Gewandes bliebe. Das Meßgewand der
Bischöse, die Casula, ist nichtö weiter, als ein nach unten
sich verbreiterndes Stück Zcug, oben mit einem Loch,
den Hals hindurchzustecken. Aus steiser Masse be-
stehend würde die Casula einen nach unten sich stark
verbreiternden Trichter darstellen. Jn weichem Stoff
dagegen sallen diese Wandungen des Trichters formlos
zusammen. Also selbst wieder so formlos als möglich,
gewinnt dieseö wie ein Sack über den Oberkörper
fallende Kleid dadurch eine reiche und schöne Form,
daß ihre Träger die Casula mit beiden Armen erheben,
und es wie ein Tuch über die Arme herübcr und
zwischen den Armen herunter sallen lassen. Die ge-
rundeten, nach unten sich immer stärker verwölbenden
und immer tieser ausbuchtenden Falten schaffen eine
Gewandsläche, in der rhythmische Form und Bewegung
in gleichmäßig bcschleunigtem Tempo einen vollen Er-
satz bieten sür Pracht und Prunk des Stoffes. Eine
durchgeführte Proportionalität herrscht zwischen Falten-
höhe, Faltenweitc und -Tiefe deö Falles. Durch Wechsel
in Anzahl, Höhe, Form, Krümmungsradius, durch
engeres oder weiteres Auseinanderhalten, Heben oder
Senken und ungleiche oder gleichmäßige Lage der Arme
läßt sich das Motiv mannigsach genug variieren.
Beim mittelalterlichen Mantel steigert sich die
Schwierigkeit in dem Maße, als dieses sormlose Stück
Ieug an Größe zunimmt und jeglichen Schnittes ent-
behrt. Ein rechteckiges Stück Tuch, unzugerichtet wie
ein Tischtuch oder Bettlaken, wird es zum Gewand
erst, wenn dic Figur es anlegt und trägt.
Und nun kommt alles darauf an, wie die Figur
den Stoff dirigiert, wenn sie ihn über Kopf oder
Schultern und Arme wirft, das eine Ende emporrafft
und über den Arm sallen läßt. Die Formen, die der
Stoff bildet, die Falten nämlich, sind in ihrer klar
bestimmten Gestalt, ihrer Zügigkeit und ihrem Rhythmus
der Prüsstein dasür, wie weit die Figur mit ihrem
Willen über dieses schwer plastisierbare Material ver-
sügt. An sich ist ja dieser sormlose Sack beständig in
Gefahr, in unberechneten und unberechenbaren Falten
sich zu zerknüllen und in häßliche Verwirrung zu ge-
raten. Am nackten Körper ist das plastisierbare Mate-
rial, das aus schlaffer in seste Form übergeführt werden
kann, die Muskulatur. Jndem die Gewandfalten Wille
oder Haltlosigkeit, Energie oder Schwäche ausdrücken,
werden sie Organ und Anzeiger der körperlichen Funk-
tioncn des Menschen, werden sie das, was am nackten
Körper die Muskeln sind. Jn der Art, wie sie sich
schwächer oder ftärker runden, sich abflachen oder
schwellen, wie sie in fester Form ftehen oder in sich
zusammensinken, drücken sie einen bestimmten Grad
aktueller oder potenzieller Energie aus.
Jndem sich die Falten in plastisch gerundeter Form
zu langen Iügen ausdehnen, die sich beugen oder
ftrecken, heben und senken, sich in die Richtung der
Schwerlinie einstellen oder schräg zu ihr ftellen und ge-
geschmeidig nachschleifen können, machen sie aus dem
mit Gewand umwundenen einheitlichen Körper einen
gegliederten Organismus. Jn ihrer stabartigen Bil-
dung von bestimmter Form gleichen sie ausrechten