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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 4
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Benn, Joachim: Robert Walser
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Seeliger, Ewald Gerhard: Die Freiheit des guten Herzens: eine Seegeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0152

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Robert Walser.

ist auch von den Aufsätzen, die es zur einen Hälfte ent-
hält, fingiert, sie stammten von einem Schulknaben;
sie handeln wirklich zum Teil von so primitiven Themen
wie der Schule, der Schulklasse, dem Schulaufsatz, aber
andere sind komplizierteren Themen gewidmet und mehr
als einmal fallen schon hier Worte von einer ahnungs-
vollen dunkeln Wahrheit, die sich nicht mehr vergessen
lassen. Was das Buch sonst noch enthält, die Frag-
mente vom „Commis", „Der Maler", „Der Wald", ist
nicht mehr als ein Versuch, Vorarbeit für spätere Bücher.

Das zweite Buch Walsers sind die „Geschwister
Tanner", die einstweilen als sein Hauptwerk zu gelten
haben und vielleicht für alle Aeiten. Hier sind alle
Themen, die im ersten Buche angeschlagen sind, das vom
Commis, vom aufsatzschreibenden kleinen Denker, seinem
Bruder dem Maler und der Natur verknüpft, und in-
dem ergänzend die bürgerliche Welt in ihren selbst-
zufrieden stabilen wie in ihren problematischen Formen
in vielerlei Gestalten aus sehr verschiedenen Milieus
herangezogen ist, ist so etwas wie ein Weltgedicht ent-
standen. Obwohl dabei die ganze reale Welt vom Nasen-
tropfen eines armen Greises bis zum elenden Tode
eines Dichters in das Buch einbezogen ist, ist der Ton
ein durchaus märchenhafter, und in jeder Zeile spürt
man die ganze Erlösung des Dichters, sich endlich in
einem großen und breiten Ganzen ausdrücken zu kön-
nen. Die Form ist vielfach sehr frei, die Handlung aus
Reden, Briefen, Aufsätzen, Berichten zusammengesetzt,
und dennoch hat das Ganze eine unangreifbare Ge-
schlossenheit von einer seifenblasenhaften Leichtigkeit.

Das dritte Buch Walsers ist der Roman „Der Ge-
hülfe". Da die Umgebung, in die der junge Held
diesmal gestellt ist, nicht mehr als ein Kaufmannshaus
umfaßt, das Heim eines Projektenmachers, der im Ver-
laufe der Handlung langsam zum Bankrott treibt, so
kommt dieses Buch dem landläufigen Roman am
nächsten; mit seinem liebe- und oft humorvoll ausge-
malten schweizerischen Natur- und Seelenmilieu hat
das Buch fast etwas Kellerisches, zumal noch ein wun-
dervoller Frauencharakter darin atmet.

Der Jdee nach am bedeutendsten ist das vierte, das
Tagebuch „Jakob von Genten". Es ist gleichsam eine
Darstellung von Walsers geistigem Weltbild in Form
einer phantastischen Erziehungsanstalt, wie auch gewisse
visionäre Einschiebsel bestätigen. Dieses Knabenheim mit
seinem brutal-zarten Leiter, seiner zarten Schulhelferin
und den Aöglingen istnichts anderes als das Welttheater
felbst, und aus versteckten Spalten dringen auch immer-
während höllische Dämpfe auf die Bühne, sodaß das
Buch, das seiner Grundanschauung nach doch ganz anders
ist, in seiner Stimmung in manchem an die Jugend-
dramen Wedekinds erinnert.

Nachdem die erzählerische Masse schon hier wieder
in ganz kleine Abteilungen zerspalten ist, ist sie vollends
in einzelne, in sich selbständige Stücke zerschlagen in den
neuen „Aufsätzen"*. Es sind Charakteristiken in Form
von Briefen, kleine poetisch-lyrische und poetisch-philo-

* Von Robert Walsers Büchern sind „Fritz Kochers Aufsätze"
irn Leipziger Jnselverlag, „Geschwister Tanner", „Der Gehülfe",
„Jakob von Genten" bei Bruno Cassirer in Berlin, die „Aufsätze"
bei Kurt Wolff, Leipzig, erschienen.

sophische Stücke, Berichte von Theatern und anderen
städtischen Milieus, auch kleine Märchen und Grotesken,
als bedeutendste Stücke dann ganz merkwürdige Jnter-
pretationen von Bühnenfiguren, Charakterbilder von
Dichtern, Umsetzungen von Bühnenauftritten in Walser-
sche Prosa, die deren ganze Bedeutung zeigen. Es ist
im Grunde genommen dasselbe, was die anderen Bücher
vielfach auch enthalten, aber da es nun für sich steht,
noch klarer und fester im Umriß, noch tiefer und wohl-
erwogener im Gedanken, bei jener vom Anfang bis zum
Ende immer gleich starken, niemals nachlassenden Vision,
die Walsers eigentliche Größe ausmacht.

Die Entwicklung wird damit nicht stille stehen: Schon
sind in Ieitschriften neue Prosaskizzen allerkleinsten Aus-
maßes erschienen, in denen Grundtypen der Mensch-
lichkeit in wenige Aeilen beschreibender Prosa gleichsam
gebannt und festgezaubert sind. Die erzählerische Masse
wird sich auch wieder zusammenziehen, um sich neuer-
dings zu zerteilen; der jugendliche Ton wird bleiben,
aber, was er zu verkünden hat, an Weisheit und Tiefe
weiter wachsen. Und selbst wenn diesem Werke aus
irgendeinem Grunde keine Folge mehr würde: Wer mit
diesen fünf Büchern auf der Schulter unvermutet an die
Himmelstür dichterischer Ewigkeit anklopfte, hätte nicht
mehr zu gewärtigen, daß er abgewiesen würde; er würde,
der für den flüchtigen Blick so unreif und knabenhaft er-
scheint, sehr schnell auf die himmlischen Wiesen hinaus-
treten dürfen, und ich sehe die göttlichen, die großen
Geister den jungen Fant mit Ehrfurcht begrüßen.

Joachim Benn.

ie Freiheit des guten Herzens.

Eine Seegeschichte

von Ewald Gerhard Seeliger.

Louis de la Gorde Montarnal lag als Leutnant
auf der „Montagne" in Brest, als die Revolution über
Frankreich hereinbrach. Obschon er aus einem alten,
reichbegüterten Geschlecht stammte, schloß er sich doch
aus innerer Überzeugung der Erhebung des Volkes an.
Sein junger, schwärmerischer Kopf war erfüllt von den
Jdeen Rousseaus. Schon als Knabe hatte er den Plan
gefaßt, mit gleichgesinnten Genossen nach einer der
paradiesischen Südseeinseln auszuwandern, um in der
Rückkehr zu der Natur das reine, ungetrübte Menschen-
glück zu sinden.

Er nannte sich Bürger Montarnal und blieb vorerst
auf seinem Posten. Aber die Iustände bei der Marine,
der die Pariser Revolutionsmänner nicht das geringste
Verständnis entgegenbrachten, verschlimmerten sich von
Tag zu Tag. Als einer seiner Unterleutnants, ein roher,
unwissender Schreihals, zum Kapitän befördert wurde,
erbat sich Montarnal Urlaub und ging nach Paris,
um den Gewalthabern die Augen zu öffnen. Seiner
Meinung nach durfte an Bord eines Schiffes weder
Gleichheit, noch Freiheit, noch Brüderlichkeit herrschen,
sondern allein der Gehorsam.

Man hörte ihn kaum an, schob ihn beiseite und drohte
ihm endlich, weil er nicht abließ, die maritimen Maß-
 
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