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1891. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 3.
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Jenes in der Form nahe verwandte Braun-
schweiger Kästchen bietet für die Bestimmung
seiner Entstehung weit sichereren Anhalt: die
schwebenden Engel mit Kränzen und die Dar-
stellungen von Sol und Luna mit ihrem Ge-
spann auf dem Deckel, das kräftige Relief, die
derben Gestalten und Ornamente, selbst die
Trachten weisen auf unmittelbaren Anschlufs
an karolingische Elfenbein-Bildwerke hin. Wir
haben es hier also wohl mit einer Arbeit aus
früher Ottonischer Zeit zu thun, neben der die
zierlich antikisirende Dekorationsart und die
Kämpferszene an dem Berliner Kästchen auf
eine wesentlich frühere Zeit zu deuten scheint.
Allein die schwache schematische Zeichnung der
Figuren, namentlich in der Kreuzigung, und der
Uebereinstimmung bis in die kleinsten Details
aus der gleichen Zeit und Schule, wenn nicht
von demselben Künstler herrühren mufs: das
Diptychon des hl. Nicasius in der Kathedrale
zu Tournai.1) Die flache Reliefbehandlung, die
zierlichen Falten, die steifen, ausdruckslosen
Figuren sind hier übereinstimmend, der Christus
der Kreuzigung ist in beiden Darstellungen fast
genau der gleiche; die Schrift ist dies'elbe und
in der gleichen Weise zwischen den Figuren
angebracht. Am auffallendsten ist aber die
Verwandtschaft der Ornamente; insbesondere
ist das Rankenwerk zu beiden Seiten des Me-
daillons mit dem hl. Nicasius mit dem auf den
Schmalwänden des Berliner Kastens fast genau
übereinstimmend. Nur ist die Arbeit des Dip-
flache Reliefstil machen es doch schon an sich
unwahrscheinlich, dafs jene antikisirenden Motive
auch so frisch aus erster Quelle geschöpft sind,
wie bei einzelnen verwandten karolingischen
Elfenbein-Bildwerken, selbst noch bei den Tafeln
des Tutilo in St. Gallen. In der Reliefbehand-
lung, in der steifen Haltung, in den schema-
tischen Parallelfalten der Gewänder werden wir
auffallend an byzantinische Vorbilder einer be-
reits etwas vorgerückten Zeit erinnert; dazu
stimmen auch die Krieger, die so häufig an
byzantinischen Elfenbeinkasten des VIII. bis X.
Jahrh. vorkommen, und gleichfalls die Ornamente.
Zu genauerer Bestimmung der Entstehungs-
zeit, vielleicht auch der Herkunft des Berliner
Kästchens fehlt es uns zum Glück nicht ganz
an analogen Elfenbein-Bildwerken; ja es ist
wenigstens ein solches vorhanden, das nach der
tychons in Tournai flüchtiger als die an unserm
Kästchen, namentlich im Ornament.
Ch. de Linas macht auch bei dieser Arbeit
auf den Anschlufs an byzantinische Vorbilder
aufmerksam und setzt dieselbe „frühestens in
den Anfang des XI. Jahrh." Noch auffälliger,
nach Form, Ornament, Anordnung der kleinen
Bildplatten und Stilisirung der einzelnen Halb-
figuren auf denselben, verräth sich die gleiche
Schulung an byzantinischen Elfenbein - Bild-
werken bei einem gröfseren Elfenbeinkasten der
Sammlung Spitzer (Ivoires Nr. 14, Tafel VI);
wären nicht die lateinischen Beischriften, so
würde man hier wohl auf eine flüchtige byzan-
tinische Originalarbeit vom Ende des X. Jahrh.
schliefsen. Nach der vollständigen Ueberein-
l) Zuletzt in musterhafter Weise veröffentlicht durch
Ch. de Linas in der »Gazette archeologique« 1885.
1891. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 3.
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Jenes in der Form nahe verwandte Braun-
schweiger Kästchen bietet für die Bestimmung
seiner Entstehung weit sichereren Anhalt: die
schwebenden Engel mit Kränzen und die Dar-
stellungen von Sol und Luna mit ihrem Ge-
spann auf dem Deckel, das kräftige Relief, die
derben Gestalten und Ornamente, selbst die
Trachten weisen auf unmittelbaren Anschlufs
an karolingische Elfenbein-Bildwerke hin. Wir
haben es hier also wohl mit einer Arbeit aus
früher Ottonischer Zeit zu thun, neben der die
zierlich antikisirende Dekorationsart und die
Kämpferszene an dem Berliner Kästchen auf
eine wesentlich frühere Zeit zu deuten scheint.
Allein die schwache schematische Zeichnung der
Figuren, namentlich in der Kreuzigung, und der
Uebereinstimmung bis in die kleinsten Details
aus der gleichen Zeit und Schule, wenn nicht
von demselben Künstler herrühren mufs: das
Diptychon des hl. Nicasius in der Kathedrale
zu Tournai.1) Die flache Reliefbehandlung, die
zierlichen Falten, die steifen, ausdruckslosen
Figuren sind hier übereinstimmend, der Christus
der Kreuzigung ist in beiden Darstellungen fast
genau der gleiche; die Schrift ist dies'elbe und
in der gleichen Weise zwischen den Figuren
angebracht. Am auffallendsten ist aber die
Verwandtschaft der Ornamente; insbesondere
ist das Rankenwerk zu beiden Seiten des Me-
daillons mit dem hl. Nicasius mit dem auf den
Schmalwänden des Berliner Kastens fast genau
übereinstimmend. Nur ist die Arbeit des Dip-
flache Reliefstil machen es doch schon an sich
unwahrscheinlich, dafs jene antikisirenden Motive
auch so frisch aus erster Quelle geschöpft sind,
wie bei einzelnen verwandten karolingischen
Elfenbein-Bildwerken, selbst noch bei den Tafeln
des Tutilo in St. Gallen. In der Reliefbehand-
lung, in der steifen Haltung, in den schema-
tischen Parallelfalten der Gewänder werden wir
auffallend an byzantinische Vorbilder einer be-
reits etwas vorgerückten Zeit erinnert; dazu
stimmen auch die Krieger, die so häufig an
byzantinischen Elfenbeinkasten des VIII. bis X.
Jahrh. vorkommen, und gleichfalls die Ornamente.
Zu genauerer Bestimmung der Entstehungs-
zeit, vielleicht auch der Herkunft des Berliner
Kästchens fehlt es uns zum Glück nicht ganz
an analogen Elfenbein-Bildwerken; ja es ist
wenigstens ein solches vorhanden, das nach der
tychons in Tournai flüchtiger als die an unserm
Kästchen, namentlich im Ornament.
Ch. de Linas macht auch bei dieser Arbeit
auf den Anschlufs an byzantinische Vorbilder
aufmerksam und setzt dieselbe „frühestens in
den Anfang des XI. Jahrh." Noch auffälliger,
nach Form, Ornament, Anordnung der kleinen
Bildplatten und Stilisirung der einzelnen Halb-
figuren auf denselben, verräth sich die gleiche
Schulung an byzantinischen Elfenbein - Bild-
werken bei einem gröfseren Elfenbeinkasten der
Sammlung Spitzer (Ivoires Nr. 14, Tafel VI);
wären nicht die lateinischen Beischriften, so
würde man hier wohl auf eine flüchtige byzan-
tinische Originalarbeit vom Ende des X. Jahrh.
schliefsen. Nach der vollständigen Ueberein-
l) Zuletzt in musterhafter Weise veröffentlicht durch
Ch. de Linas in der »Gazette archeologique« 1885.