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1891.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 6.
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in's Chor. Einer, der Maria vorstellte, kniete
auf einem Betschemel und las dann andächtig
aus einem Buche. Beim Gloria wurden auf der
gegenüberliegenden Seite des Chores die Vor-
hänge vor dem als Engel gekleideten zweiten
Jüngling weggezogen. Derselbe blieb bis zum
Evangelium ruhig stehen, sein Szepter hoch-
haltend. Als Evangelium begann der Diakon
den Bericht des hl. Lukas über die Verkündi-
gung zu singen; den als Engel und Maria ge-
kleideten Jünglingen blieb jedoch der Gesang
jener Worte vorbehalten, welche die von ihnen
dargestellten Personen ehedem gesprochen hat-
ten. Bei dem Grufse „Ave" verbeugte der
Engel sich tief; sang er „Gratia plena", so
machte er eine Kniebeugung, bei den Worten
„Dominus tecum" kniete er auf die Erde hin.
Maria blieb inzwischen sitzen, sie erhob sich,
um zu singen: „Quomodo fiet istud r" xm& wandte
sich dabei zum Engel. Dieser antwortete: „Spi-
ritus sanctus superveniet in te", indem er nach
oben hinwies auf eine in einem Kreise bren-
nender Lichter von den Gewölben zu Maria
herabkommende Taube. Diese schwebte dort
bis zum Agnus Dei, wurde dann wieder hinauf-
gezogen und verschwand. Nach Vollendung des
Evangeliums kniete Maria hin, während der
Engel stand.
Aus dem Vorstehenden erhellt, dafs die Szene
der Verkündigung selbst in ihrer einfachsten Ge-
stalt einen reichen Wechsel bietet, weil von den
beiden handelnden Personen eine stehen, knieen
oder sitzen, die andere stehen oder knieen kann.
Auf den ältesten Bildern finden wir Maria
sitzend, nämlich auf dem spätestens aus der
Mitte des III. Jahrh. stammenden Fresko der
Katakombe der hl. Priscilla, auf einem dem
Beginn des V. Jahrh, entstammenden Sarkophag
zu Ravenna und auf den ungefähr gleich alten
Mosaiken in Santa Maria Maggiore zu Rom.
Wesentliche Unterschiede scheiden jedoch diese
drei Darstellungen in zwei Klassen. Bei den
beiden letzteren sitzt die aller.seligste Jungfrau
nämlich auf einem niedrigen Schemel, mit Hand-
arbeit beschäftigt; beim ersten aber thront sie
auf einer Kathedra mit hoher Rücklehne. In
allen drei Fällen steht der Engel vor ihr, im
ersten noch ohne Flügel.
Jene Bilder, welche Maria spinnend dar-
stellen, sind ebenso wie jene, in denen sie am
Brunnen stehend oder knieend mit oder ohne
Engel erscheint, auf das Jakobus-Evangelium, also
auf morgenländische Einflüsse zurückzuführen.
Man begegnet ihnen häufig in orientalischen
Handschriften, seltener in italienischen Kunst-
denkmälern, fast nie jenseits der Alpen. Sie
können wegen ihrer praktischen Unbrauchbar-
keit für unsere Zeit hier übergangen werden.
Sehr wichtig ist hingegen das Freskobild, der
Priscillakatakombe. Der Umstand, dafs Maria,
die in jenen älteren Bildern der zweiten Klasse
nur einen niedrigen Schemel bei der Arbeit
benutzt, hier auf einem Throne sitzt, zeigt, dafs
sie als Hochbegnadigte geschildert werden soll.
Dies wird dadurch bestätigt, dafs sie in den
meisten alten Bildern, worin sie ihr Kind den
Magiern zur Verehrung hinhält, auf einer ähn-
lichen Kathedra mit hoher Rücklehne Platz
nahm. Die italienische Kunst hat dies erhabene
Sitzen in der zweiten Hälfte des Mittelalters
weiter entwickelt; denn die meisten Maler jener
Zeit, besonders diejenigen des XIV. und XV.
Jahrh., stellen Maria sitzend dar. Fra Angelico
giebt ihr auf einem Bilde freilich nur einen
armen Schemel, Lorenzo Monaco dagegen einen
hohen Thron, Andere einen mehr oder weniger
reichen Sessel. Der Engel kniet fast immer. Durch
diesen Gegensatz zwischen Sitzen und Knieen
wird die Würde Maria's kräftig betont. Einen
merkwürdigen Mifston bringen dann aber manche
oberitalienische Meister (besonders Sienesen) in
die Darstellung, indem sie die thronende Herrin
erschreckt zusammenfahren und sich vom Engel
abwenden lassen. Am bekanntesten ist in dieser
Hinsicht Simoni Memmi's Verkündigung zu
Florenz. Unleugbar hat dies Zusammenschrecken
seine Begründung im Evangelium; es ward in
Italien besonders beachtet, weil der hl. Ambro-
sius es zum Lob der jungfräulichen Beschei-
denheit so ausgiebig verwerthet. Nichtsdesto-
weniger ist diese Verwirrung Maria's beim Ein-
tritt des Engels ein für den Verlauf und den
Kern der Verkündigung so rasch vorübergehen-
des und unwesentliches Ereignifs, dafs es nicht
zur Hauptsache gemacht werden darf. Zur Ent-
schuldig darf aber auch wiederum darauf hin-
gewiesen werden, dafs jene Maler sich an die
Anfangsworte anklammerten, womit das Evan-
gelium der Verkündigung so oft citirt wird:
„Missus est". Sie wollten den Eintritt des von
Gott gesandten Boten schildern und den ersten
Eindruck desselben. Dieselbe Absicht bestimmt
eine grofse Menge anderer Bilder, in denen die
Jungfrau beim Eintritt des Engels vom Sitz
1891.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 6.
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in's Chor. Einer, der Maria vorstellte, kniete
auf einem Betschemel und las dann andächtig
aus einem Buche. Beim Gloria wurden auf der
gegenüberliegenden Seite des Chores die Vor-
hänge vor dem als Engel gekleideten zweiten
Jüngling weggezogen. Derselbe blieb bis zum
Evangelium ruhig stehen, sein Szepter hoch-
haltend. Als Evangelium begann der Diakon
den Bericht des hl. Lukas über die Verkündi-
gung zu singen; den als Engel und Maria ge-
kleideten Jünglingen blieb jedoch der Gesang
jener Worte vorbehalten, welche die von ihnen
dargestellten Personen ehedem gesprochen hat-
ten. Bei dem Grufse „Ave" verbeugte der
Engel sich tief; sang er „Gratia plena", so
machte er eine Kniebeugung, bei den Worten
„Dominus tecum" kniete er auf die Erde hin.
Maria blieb inzwischen sitzen, sie erhob sich,
um zu singen: „Quomodo fiet istud r" xm& wandte
sich dabei zum Engel. Dieser antwortete: „Spi-
ritus sanctus superveniet in te", indem er nach
oben hinwies auf eine in einem Kreise bren-
nender Lichter von den Gewölben zu Maria
herabkommende Taube. Diese schwebte dort
bis zum Agnus Dei, wurde dann wieder hinauf-
gezogen und verschwand. Nach Vollendung des
Evangeliums kniete Maria hin, während der
Engel stand.
Aus dem Vorstehenden erhellt, dafs die Szene
der Verkündigung selbst in ihrer einfachsten Ge-
stalt einen reichen Wechsel bietet, weil von den
beiden handelnden Personen eine stehen, knieen
oder sitzen, die andere stehen oder knieen kann.
Auf den ältesten Bildern finden wir Maria
sitzend, nämlich auf dem spätestens aus der
Mitte des III. Jahrh. stammenden Fresko der
Katakombe der hl. Priscilla, auf einem dem
Beginn des V. Jahrh, entstammenden Sarkophag
zu Ravenna und auf den ungefähr gleich alten
Mosaiken in Santa Maria Maggiore zu Rom.
Wesentliche Unterschiede scheiden jedoch diese
drei Darstellungen in zwei Klassen. Bei den
beiden letzteren sitzt die aller.seligste Jungfrau
nämlich auf einem niedrigen Schemel, mit Hand-
arbeit beschäftigt; beim ersten aber thront sie
auf einer Kathedra mit hoher Rücklehne. In
allen drei Fällen steht der Engel vor ihr, im
ersten noch ohne Flügel.
Jene Bilder, welche Maria spinnend dar-
stellen, sind ebenso wie jene, in denen sie am
Brunnen stehend oder knieend mit oder ohne
Engel erscheint, auf das Jakobus-Evangelium, also
auf morgenländische Einflüsse zurückzuführen.
Man begegnet ihnen häufig in orientalischen
Handschriften, seltener in italienischen Kunst-
denkmälern, fast nie jenseits der Alpen. Sie
können wegen ihrer praktischen Unbrauchbar-
keit für unsere Zeit hier übergangen werden.
Sehr wichtig ist hingegen das Freskobild, der
Priscillakatakombe. Der Umstand, dafs Maria,
die in jenen älteren Bildern der zweiten Klasse
nur einen niedrigen Schemel bei der Arbeit
benutzt, hier auf einem Throne sitzt, zeigt, dafs
sie als Hochbegnadigte geschildert werden soll.
Dies wird dadurch bestätigt, dafs sie in den
meisten alten Bildern, worin sie ihr Kind den
Magiern zur Verehrung hinhält, auf einer ähn-
lichen Kathedra mit hoher Rücklehne Platz
nahm. Die italienische Kunst hat dies erhabene
Sitzen in der zweiten Hälfte des Mittelalters
weiter entwickelt; denn die meisten Maler jener
Zeit, besonders diejenigen des XIV. und XV.
Jahrh., stellen Maria sitzend dar. Fra Angelico
giebt ihr auf einem Bilde freilich nur einen
armen Schemel, Lorenzo Monaco dagegen einen
hohen Thron, Andere einen mehr oder weniger
reichen Sessel. Der Engel kniet fast immer. Durch
diesen Gegensatz zwischen Sitzen und Knieen
wird die Würde Maria's kräftig betont. Einen
merkwürdigen Mifston bringen dann aber manche
oberitalienische Meister (besonders Sienesen) in
die Darstellung, indem sie die thronende Herrin
erschreckt zusammenfahren und sich vom Engel
abwenden lassen. Am bekanntesten ist in dieser
Hinsicht Simoni Memmi's Verkündigung zu
Florenz. Unleugbar hat dies Zusammenschrecken
seine Begründung im Evangelium; es ward in
Italien besonders beachtet, weil der hl. Ambro-
sius es zum Lob der jungfräulichen Beschei-
denheit so ausgiebig verwerthet. Nichtsdesto-
weniger ist diese Verwirrung Maria's beim Ein-
tritt des Engels ein für den Verlauf und den
Kern der Verkündigung so rasch vorübergehen-
des und unwesentliches Ereignifs, dafs es nicht
zur Hauptsache gemacht werden darf. Zur Ent-
schuldig darf aber auch wiederum darauf hin-
gewiesen werden, dafs jene Maler sich an die
Anfangsworte anklammerten, womit das Evan-
gelium der Verkündigung so oft citirt wird:
„Missus est". Sie wollten den Eintritt des von
Gott gesandten Boten schildern und den ersten
Eindruck desselben. Dieselbe Absicht bestimmt
eine grofse Menge anderer Bilder, in denen die
Jungfrau beim Eintritt des Engels vom Sitz