Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

DOI Artikel:
Aus Berliner Kunstsälen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0188

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XIX. Jahrgang 1907/1908 Nr. 21. 3. April.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewei beblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.

AUS BERLINER KUNSTSÄLEN
Spitzweg! Man schöpft einen Augenblick Atem
in diesem verwirrenden Getriebe des reichshaupt-
städtischen Kunstlebens. Das hastet und jagt vorüber:
hier französische Impressionisten, Liebennann und
Slevogt; dort F. A. von Kaulbach und Caspar Ritter;
die »Scholle« schwimmt schwerfällig vorüber; Qreiners
edle Geste lockt zu Schulte; bei Keller und Reiner:
Pariser Karikaturen von Leo Kober, Papst Pius vom
Haager Salonmaler Antoon van Wehe, Zeichnungen
einer Somnambule, Norwegische Fjorde und Bauern,
neuberlinische Skulpturen . . . Der bedauernswerte
Kunstkritiker, der durchaus kein Registrator sein will,
greift nach einem Rettungsring und erreicht wieder
festes Land.

Also: von Spitzweg sind, wohl als Erinnerungs-
feier seines hundertsten Geburtstages, einige aus-
gewählte Stücke bei Gurlitt ausgestellt, der bei aller
Verehrung für die starke Kunst Trübners und seiner
Schule doch auch eine so sympathische Vorliebe fürs
Altmodische, aber Unveraltete beweist. In den stillen
Räumen an der Potsdamerstraße findet man neben
den Sammelausstellungen neuerer Meister stets Bilder
von Rousseau oder Diaz, von Hans Thoma aus seiner
besten Schaffenszeit, oder wie dieses Mal von dem
unvergeßlichen Maler des deutschen Philisters. Es
läßt sich nicht gut leugnen: ein Mitglied dieser aus-
gebreiteten Familie ist der Alte auch selbst gewesen,
trotz seiner unakademischen und ihrerzeit unmünch-
nerischen Palette. Aber, ist man schon ein Bewunderer
van «Goghs und geneigt, manchmal auf Münch,
Willumsen und wie die modernsten Revolutionäre
alle heißen mögen, zu schwören — in gewissen
Stunden ists so wohltuend, sich in Gesellschaft der
Unproblematischen, der behaglichen Lebensbejaher zu
erholen. Von Spitzweg sieht man den Einsiedler vor
seiner Klause, höchst unasketisch die Gans zum
Sonntagsbraten rupfend; mit ganz reizendem Humor
dargestellt; die Pointe drängt sich durchaus nicht
auf; überdies prachtvoll gemalt: man sehe dieses
Türkisenblau des Himmels über dem stumpfen Laub-
grün! Dann der Wachtposten an der Stadtmauer
mit der aufgehängten Trockenwäsche, faul aufs Bajonett
gestützt; er gähnt herzhaft und ansteckend und be-
merkt gar nicht, wie malerisch seine Silhouette sich
von der lachenden Landschaft mit dem niedrigen

Horizont abhebt. Und schließlich ein noch unbe-
kanntes Bildchen: »An der Mauer«. Spitzwegs Pa-
lette ist diesmal gar nicht cuypisch durchsonnt,
sondern ganz hell, kühl und silbrig; noch heller,
kühler und silbriger wie bei dem Frauenbad von
Dieppe in der Nationalgalerie. Im klaren Morgen-
lichte ein Mann, ganz in Weiß gekleidet, mit derbem
Knüttel bewaffnet, und mit diesem scheint er eben in
dem Rosenbusch gewütet zu haben, dessen blüten-
reiche Zweige zerstreut auf der Erde liegen. Ein
Wahnsinniger? Ist das der Hof eines Irrenhauses?
Geweißte nüchterne Mauern, verwahrloster Rasen; man
sinnt über dem Bildchen und fühlt sich plötzlich von
einer rätselhaften Empfindung gefangen, die dem Ein-
gesperrten eine Raserei verzeiht, die sich am toten
Objekt vergreift. Mir scheint, Spitzweg ist hier doch
etwas problematisch!

»Das Groteske kann in der Malerei nur in kleinem
Maßstabe gefallen.« Eine Weisheit uralter Buch-
ästhetik; ist es den Strathmann und ähnlichen heutigen
Liebhabern dieses Genres gelungen, sie vergessen zu
machen? Spitzweg besaß noch die vergessene Kunst,
den Rahmen nie über die Bedeutung des Stoffes hin-
auszuspannen, das gibt seinen liebenswürdigen Eigen-
schaften die Möglichkeit, noch heute zu wirken, so
fern uns auch öfters Stoff und Behandlung liegen.
Und hier sei versucht, den Übergang zu den Leuten
von der »Scholle« und zu Fritz Erler zu finden, die
gleichfalls bei Gurlitt und im Künstlerhaus Aus-
stellungen veranstaltet haben. Erler ist bei Gurlitt
nur durch sein bestes Porträt, das Bildnis des Bres-
lauer Dermatologen Neißer im weißen Operations-
kittel, und eine »Romantische Musik« vertreten; in der
Bellevuestraße machen zurzeit nebst vielen Ölbildern
die vielgewanderten Kartons zu den Wiesbadener
Kurhausfresken Station. Ich muß gestehen, daß mir
die Maler der Gruppe, vor allem der prächtige Leo
Putz, lieber sind als die Stilisten, die Pathetiker. Sie
haben etwas fatal Rhetorisches; da sie eigentlich nichts
Besonderes zu sagen haben, sagen sie es auf beson-
dere Weise. Was eben zu einem Aphorismus langen
könnte, wird künstlich zu ganzen Dichtungen ausge-
weitet. Und um die großen Flächen auszufüllen, die
Fritz Erler auch bei seinen Staffeleigemälden bevor-
zugt, mangelt es viel zu sehr an starken malerischen
Qualitäten; so bleibt vor Bildern wie den »Fremd-
 
Annotationen