DAS PHONOGRAMMARCHIV DER AKADEMIE
DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
Von
Professor Dr. KARL LUICK, Wien
DAS Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften in Wien hat die
Aufgabe, alles mit dem Ohr Wahrnehmbare, was von wissenschaftlichem
Interesse ist, mit Hilfe des Phonographen oder des Grammophons festzuhalten,
um es auf diese Weise der gegenwärtigen und künftigen Forschung bequem
zugänglich zu machen. Seine Aufnahmen umfassen daher die europäischen Kul-
tursprachen in ihren verschiedenen Abstufungen (Hochsprache, lässige Um-
gangssprache, Mundart) und viele Sprachen außereuropäischer, namentlich
auch primitiver Völker, ferner Musik- und Gesangsstücke, namentlich solcher
Völker, die außerhalb des westeuropäischen Kulturkreises stehen, endlich auch
Stimmporträts hervorragender Männer und Frauen. Die nach uns kommenden
Generationen sollen die Möglichkeit haben, die Sprachen, die Musik und den
Gesang des 20. Jahrhunderts sich zu Gehör zu bringen und auf diesem Wege zu
erforschen. Auch die in den letzten Jahrzehnten herangewachsene Schallplatten-
industrie hält Sprache und Musik der Gegenwart fest, aber sie hat andere Ziele.
Ihr kommt es auf Spitzenleistungen an, also Aufnahmen hervorragender
Künstler, oder aber auf Unterhaltungsmusik. Auch solche Platten können natür-
lich der Wissenschaft dienstbar gemacht werden. Aber sie braucht in erster
Linie ganz anderes: eine Wiedergabe der natürlichen Alltagsrede ohne alle
kunstmäßige Stilisierung und Steigerung und auch ohne die künstliche Ver-
deutlichung, die die für den Schulgebrauch bestimmten Grammophonplatten
nicht selten aufweisen. Ferner braucht die Wissenschaft mancherlei besondere
Spielarten der Sprache, wie die Mundarten. Ihr sind nicht bloß künstlerische
Höchstleistungen von Belang, sondern auch die Volksmusik und das Volkslied,
ferner die Musik und die Gesänge von außerhalb des westeuropäischen Kultur-
kreises stehenden Völkern bis herab zu den Primitiven: ohne ein solches Mate-
rial ist die vergleichende Musikwissenschaft überhaupt nicht möglich.
So wird die Wissenschaft der Zukunft aus dem Phonogrammarchiv reichen
Nutzen ziehen. Aber auch der gegenwärtigen Forschung dient es in hohem
Grade nicht bloß dadurch, daß es ermöglicht, Sprache und Musik weitabliegen-
der Völkerschaften zu studieren, sondern weil seine Platten es ermöglichen, eine
große Schwierigkeit beim Studium alles Lautlichen, seine Flüchtigkeit zu über-
winden. Sie erlauben, eine Rede oder ein Musikstück beliebig oft sich zu Gehör
zu bringen mit der Gewähr, immer absolut das Gleiche zu hören, während bei
jeder Wiederholung durch die menschlichen Sprachorgane oder durch die
Finger des Spielenden kleine Variationen unvermeidlich sind. Weiterhin ist es
möglich, die Platteneindrücke nach verschiedenen Methoden auszumessen.
Das Wiener Phonogrammarchiv — das erste seiner Art — wurde im
Jahre 1899 gegründet. Kurze Zeit, nachdem Edison den Phonographen erfunden
hatte, kam der Physiologe an der Wiener Universität, Siegmund Exner, auf den
Gedanken, diese Errungenschaft für das Festhalten der heute vorhandenen klang-
lichen Objekte zu verwerten, und er fand bei der Akademie der Wissenschaften
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DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
Von
Professor Dr. KARL LUICK, Wien
DAS Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften in Wien hat die
Aufgabe, alles mit dem Ohr Wahrnehmbare, was von wissenschaftlichem
Interesse ist, mit Hilfe des Phonographen oder des Grammophons festzuhalten,
um es auf diese Weise der gegenwärtigen und künftigen Forschung bequem
zugänglich zu machen. Seine Aufnahmen umfassen daher die europäischen Kul-
tursprachen in ihren verschiedenen Abstufungen (Hochsprache, lässige Um-
gangssprache, Mundart) und viele Sprachen außereuropäischer, namentlich
auch primitiver Völker, ferner Musik- und Gesangsstücke, namentlich solcher
Völker, die außerhalb des westeuropäischen Kulturkreises stehen, endlich auch
Stimmporträts hervorragender Männer und Frauen. Die nach uns kommenden
Generationen sollen die Möglichkeit haben, die Sprachen, die Musik und den
Gesang des 20. Jahrhunderts sich zu Gehör zu bringen und auf diesem Wege zu
erforschen. Auch die in den letzten Jahrzehnten herangewachsene Schallplatten-
industrie hält Sprache und Musik der Gegenwart fest, aber sie hat andere Ziele.
Ihr kommt es auf Spitzenleistungen an, also Aufnahmen hervorragender
Künstler, oder aber auf Unterhaltungsmusik. Auch solche Platten können natür-
lich der Wissenschaft dienstbar gemacht werden. Aber sie braucht in erster
Linie ganz anderes: eine Wiedergabe der natürlichen Alltagsrede ohne alle
kunstmäßige Stilisierung und Steigerung und auch ohne die künstliche Ver-
deutlichung, die die für den Schulgebrauch bestimmten Grammophonplatten
nicht selten aufweisen. Ferner braucht die Wissenschaft mancherlei besondere
Spielarten der Sprache, wie die Mundarten. Ihr sind nicht bloß künstlerische
Höchstleistungen von Belang, sondern auch die Volksmusik und das Volkslied,
ferner die Musik und die Gesänge von außerhalb des westeuropäischen Kultur-
kreises stehenden Völkern bis herab zu den Primitiven: ohne ein solches Mate-
rial ist die vergleichende Musikwissenschaft überhaupt nicht möglich.
So wird die Wissenschaft der Zukunft aus dem Phonogrammarchiv reichen
Nutzen ziehen. Aber auch der gegenwärtigen Forschung dient es in hohem
Grade nicht bloß dadurch, daß es ermöglicht, Sprache und Musik weitabliegen-
der Völkerschaften zu studieren, sondern weil seine Platten es ermöglichen, eine
große Schwierigkeit beim Studium alles Lautlichen, seine Flüchtigkeit zu über-
winden. Sie erlauben, eine Rede oder ein Musikstück beliebig oft sich zu Gehör
zu bringen mit der Gewähr, immer absolut das Gleiche zu hören, während bei
jeder Wiederholung durch die menschlichen Sprachorgane oder durch die
Finger des Spielenden kleine Variationen unvermeidlich sind. Weiterhin ist es
möglich, die Platteneindrücke nach verschiedenen Methoden auszumessen.
Das Wiener Phonogrammarchiv — das erste seiner Art — wurde im
Jahre 1899 gegründet. Kurze Zeit, nachdem Edison den Phonographen erfunden
hatte, kam der Physiologe an der Wiener Universität, Siegmund Exner, auf den
Gedanken, diese Errungenschaft für das Festhalten der heute vorhandenen klang-
lichen Objekte zu verwerten, und er fand bei der Akademie der Wissenschaften
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