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eine Vermuthung, die ihm das Gebahren der Leineweb er-
wittwe ſowohl, wie manches Anders erklärte. „O wäre
es möglich!“ wiederholte er und ging in ſeiner Aufreg-
ung lebhaft hin und her. „Sie ſeine Tochter!“ Die
Augen, die dunkelblauen Augen — es find freilich ganz
die ſeinigen! Und ihr Weſen, verräth es nicht auf den
erſten Blick ihre Abſtammung? — Hätte ich das früher
gewußt, dieſer tolle Streich wäre unterblieben, ich hätte
den Krämern die Rache gern geſchenkt. Reute mich der
Handel, in der erſten Leidenſchaft unternommen, doch
längſt. Nun — glücklicherweiſe iſt es nech nicht zu
ſpät, nehmen ſie ſicherlich gern meinen Abtrag an. Das
Verbrechen des Weibes ſoll nun endlich an das Tages-
licht kommen und geſühnt werden.“
Er warf die Erde in die Vertiefung zurück und gab
der Stelle möglichſt das alte Ausſehen wieder, behielt
jedoch Käſtchen und Brief. Dann las er dieſen noch
einmal, legte ihn in ſeinen Gewahrſam zurück, drückte
den Deckel feſt und die Feder ſprang wieder in das
Schloß. Sinnend lehnte er ſich an den Baumſtamm,
dieſes Mal auf der andern Seite, als vorher — über-
denkend, was er zunächſt zu thun habe. wie er das Küſt-
chen in Kunz Engernſtein's Hände gelangen laſſe. Durch
einen Landmann den Rath um Geleit erſuchen und dann,
wenn er es erhalten, ſich ſelber zu ihrem Großvater
begeben? Wenn man ihm freies Geleit verweigerte? —
Oder den koſtbaren Fund etwa durch Joſt an ſeine
Adreſſe ſenden? Oder die Gegend verlaſſen, ſchleunigſt
den Ritter Vohtal aufſuchen, und die ganze Sache in
ſeine Hand legen? Jedenfalls mußte er die Rückkehr
Joſt's abwarten, wofür er ſich auch entſcheiden mochte.
Und die Zeit wurde ihm nicht lang, die roftgſten Träume
und Zukunftsbilder umgaukelten ihn. Gab es auch man-
cherlei Hinderniſſe zu überwinden — fie waren eben nicht
unüberwindlich, vorausgeſetzt, daß er fich nicht irrte.
So vertieft war er in ſeine Gedanken und Hoff-
nungen, daß er nicht beachtete, was inzwiſchen geſchah.
Der kleine Trupp Stadtſoldaten, von Frau Elſabe von
der andern Seite zu der Ruine herangeführt, ſchlich auch
ſo leiſe herbei, daß er ihn nicht wohl vernehmen kounte.
Erſt als ſein Roß, da ſie in das Thurmgemach traten,
laut ſchnaubte und wieherte, fuhr er auf. Da erſchienen
auch die Leute ſchon dieſſeits des Gemäuers und riefen
ihm zu, ſich zu ergeben. Einem unwillkürlichen Antriebe
folgend erhob er die Hand und barg das Käſtchen in
der Höhlung ungeſehen, da der Baumſtamm zwiſchen ihm
und den Stödtern ſich befand. Dann wollte er ſich zur
Flucht wenden, ſie umringten ihn jedoch ſchon. Es wäre
ihm ein Leichtes geweſen, ſich durchzuſchlagen, das Di-
kicht zu erreichen und ihnen ſo zu entkommen. Allein
das Blutver gießen widerſtrebte ihm — ſein Groll war
ja ausgelöſcht. Warum ſollte er den Rath von Neuem
reizen? Ruhig ergab er ſich, ließ er fich fortführen.
Das geſchah in großer Eile; erfreut über ihren guten
Fang, fürchteten die Leute, ſein Anhang könne zurück-
kommen und ihn befreien. ö
Er wandte ſich mit bedeutungsvollem Blick zu der
Wittwe, welche eben herzutrat: „Ich weiß Alles, Deinen
Treubruch und —“ Aber ſie riſſen ihn fort.
Elſabe hatte auf ihrer Wanderung hierher erfahren,
daß zur Verfolgung des Landfriedenbrechers in der Nacht
ein Trupp Bewaffneter im nächſten Torfe angelangt ſei.
Die Burgruine war ſchon einmal vergebens durchforſcht
worden — man meinte alſo nicht, daß heute dort Gäſte
herbergten. Das Pferdegewieher ſagte ihr indeß genug,
ohne daß ſie es äußerlich verrieth. Sie haßte dieſen
Thymo, ergriff alſo die Gelegenheit, ihn in die Hände
der Obrigkeit zu liefern. ö ö
Jetzt ſtarrte ſie ihm entſetzt nach und ſtieß dann,
nach einem Blick auf die Erde, einen Schrei aus. Sie
ſah ſogleich, daß nach ihr hier Jemand geforſcht habe.
In ſteigender Angſt begann ſie das Loch wieder zu öffner,
wühlte ſie dann weiter und weiter. Kein Käſtchen!
Sie ſprang auf, wollte dem Räuber folgen — er mußte
es ihr ja herausgeben! Doch ächzend brach ſie zuſam-
men und ſank auf den feuchten Boden, allein, ohne Bei-
ſtand in der Wildniß, die ofi wochenlang kein menſch-
licher Fuß betrat.
11.
Benigna befand ſich am Lager Katharina's als deren
Schweſter hereinſtürmte und die Kunde brachte, der ge-
fährliche Menſch, der Straßen⸗ und Junofrauenräuber
ſei gefangen und werde eben eingebracht. Alles ſtrömte
herbei, ihn zu ſehen. ö
Auch die Leineweberwaiſe verließ das Haus, nachdem
der erſte lähmende Schrecken vorüber. Doch nicht, um
ſich unter die Menſchenmenge zu miſchen, die das Rath-
haus rmer ängie „in deſſen Thurm er in Ketten und
Banden fichern Gdwahrſam gefunden. Sie eilte viel-
mehr zu Engernſteind, Engelbrechta daran zu mahnen,
daß ſie thue, was in Wer Macht ſtehe, das Schickſal
des Mannes zu mildern an deſſen Noth ſie mitſchul-
dig war. ö —
Es bedurfte dieſer Mahuung nicht erſt. Schon auf
die erſte Nachricht von ſeiner Handhaftwerdung katte
das Fräulin die Verwandten um Gnade für ihn be-
ſchworen. Jetzt, da der allgemeine Liebling Sigismunds
Braut war, und ſich ſo lieber swüxdig gezeigt hatte, wie
niemals ſonſt, blieb deſſen flehentliche Bitte natürlich noch
weniger wirkungslos, wie immer —es war indeß nun
leider allzu wahr, was Sigismund geſagt: das Recht
mußte ſeinen Lauf haben.
Oer Rath wurde durch das Rathsglöckchen zu einer
außerordentlichen Sitzung berufen und diejenigen ſeiner
Glieder, welche das Gericht bildeten, traten ſogleich zu
einem Thing zuſammen; fie nahmen den Gefangenen ins
Verhör, während Alle, denen er Unrechtz gethan, ſich
gleichfalls eilig auf dem Rathhauſe einfanden. ö
Stolz und gefaßt erſchien Tmymo, wo volr den Schöp-
pen er erklärte: daß er eben, da man ihn über fiel, um
Geleit zum Abtrage der Acht und einem Veſrgleich mit
der Stadt den Rath habe beſchicken wollen. Er hoffe
eine Vermuthung, die ihm das Gebahren der Leineweb er-
wittwe ſowohl, wie manches Anders erklärte. „O wäre
es möglich!“ wiederholte er und ging in ſeiner Aufreg-
ung lebhaft hin und her. „Sie ſeine Tochter!“ Die
Augen, die dunkelblauen Augen — es find freilich ganz
die ſeinigen! Und ihr Weſen, verräth es nicht auf den
erſten Blick ihre Abſtammung? — Hätte ich das früher
gewußt, dieſer tolle Streich wäre unterblieben, ich hätte
den Krämern die Rache gern geſchenkt. Reute mich der
Handel, in der erſten Leidenſchaft unternommen, doch
längſt. Nun — glücklicherweiſe iſt es nech nicht zu
ſpät, nehmen ſie ſicherlich gern meinen Abtrag an. Das
Verbrechen des Weibes ſoll nun endlich an das Tages-
licht kommen und geſühnt werden.“
Er warf die Erde in die Vertiefung zurück und gab
der Stelle möglichſt das alte Ausſehen wieder, behielt
jedoch Käſtchen und Brief. Dann las er dieſen noch
einmal, legte ihn in ſeinen Gewahrſam zurück, drückte
den Deckel feſt und die Feder ſprang wieder in das
Schloß. Sinnend lehnte er ſich an den Baumſtamm,
dieſes Mal auf der andern Seite, als vorher — über-
denkend, was er zunächſt zu thun habe. wie er das Küſt-
chen in Kunz Engernſtein's Hände gelangen laſſe. Durch
einen Landmann den Rath um Geleit erſuchen und dann,
wenn er es erhalten, ſich ſelber zu ihrem Großvater
begeben? Wenn man ihm freies Geleit verweigerte? —
Oder den koſtbaren Fund etwa durch Joſt an ſeine
Adreſſe ſenden? Oder die Gegend verlaſſen, ſchleunigſt
den Ritter Vohtal aufſuchen, und die ganze Sache in
ſeine Hand legen? Jedenfalls mußte er die Rückkehr
Joſt's abwarten, wofür er ſich auch entſcheiden mochte.
Und die Zeit wurde ihm nicht lang, die roftgſten Träume
und Zukunftsbilder umgaukelten ihn. Gab es auch man-
cherlei Hinderniſſe zu überwinden — fie waren eben nicht
unüberwindlich, vorausgeſetzt, daß er fich nicht irrte.
So vertieft war er in ſeine Gedanken und Hoff-
nungen, daß er nicht beachtete, was inzwiſchen geſchah.
Der kleine Trupp Stadtſoldaten, von Frau Elſabe von
der andern Seite zu der Ruine herangeführt, ſchlich auch
ſo leiſe herbei, daß er ihn nicht wohl vernehmen kounte.
Erſt als ſein Roß, da ſie in das Thurmgemach traten,
laut ſchnaubte und wieherte, fuhr er auf. Da erſchienen
auch die Leute ſchon dieſſeits des Gemäuers und riefen
ihm zu, ſich zu ergeben. Einem unwillkürlichen Antriebe
folgend erhob er die Hand und barg das Käſtchen in
der Höhlung ungeſehen, da der Baumſtamm zwiſchen ihm
und den Stödtern ſich befand. Dann wollte er ſich zur
Flucht wenden, ſie umringten ihn jedoch ſchon. Es wäre
ihm ein Leichtes geweſen, ſich durchzuſchlagen, das Di-
kicht zu erreichen und ihnen ſo zu entkommen. Allein
das Blutver gießen widerſtrebte ihm — ſein Groll war
ja ausgelöſcht. Warum ſollte er den Rath von Neuem
reizen? Ruhig ergab er ſich, ließ er fich fortführen.
Das geſchah in großer Eile; erfreut über ihren guten
Fang, fürchteten die Leute, ſein Anhang könne zurück-
kommen und ihn befreien. ö
Er wandte ſich mit bedeutungsvollem Blick zu der
Wittwe, welche eben herzutrat: „Ich weiß Alles, Deinen
Treubruch und —“ Aber ſie riſſen ihn fort.
Elſabe hatte auf ihrer Wanderung hierher erfahren,
daß zur Verfolgung des Landfriedenbrechers in der Nacht
ein Trupp Bewaffneter im nächſten Torfe angelangt ſei.
Die Burgruine war ſchon einmal vergebens durchforſcht
worden — man meinte alſo nicht, daß heute dort Gäſte
herbergten. Das Pferdegewieher ſagte ihr indeß genug,
ohne daß ſie es äußerlich verrieth. Sie haßte dieſen
Thymo, ergriff alſo die Gelegenheit, ihn in die Hände
der Obrigkeit zu liefern. ö ö
Jetzt ſtarrte ſie ihm entſetzt nach und ſtieß dann,
nach einem Blick auf die Erde, einen Schrei aus. Sie
ſah ſogleich, daß nach ihr hier Jemand geforſcht habe.
In ſteigender Angſt begann ſie das Loch wieder zu öffner,
wühlte ſie dann weiter und weiter. Kein Käſtchen!
Sie ſprang auf, wollte dem Räuber folgen — er mußte
es ihr ja herausgeben! Doch ächzend brach ſie zuſam-
men und ſank auf den feuchten Boden, allein, ohne Bei-
ſtand in der Wildniß, die ofi wochenlang kein menſch-
licher Fuß betrat.
11.
Benigna befand ſich am Lager Katharina's als deren
Schweſter hereinſtürmte und die Kunde brachte, der ge-
fährliche Menſch, der Straßen⸗ und Junofrauenräuber
ſei gefangen und werde eben eingebracht. Alles ſtrömte
herbei, ihn zu ſehen. ö
Auch die Leineweberwaiſe verließ das Haus, nachdem
der erſte lähmende Schrecken vorüber. Doch nicht, um
ſich unter die Menſchenmenge zu miſchen, die das Rath-
haus rmer ängie „in deſſen Thurm er in Ketten und
Banden fichern Gdwahrſam gefunden. Sie eilte viel-
mehr zu Engernſteind, Engelbrechta daran zu mahnen,
daß ſie thue, was in Wer Macht ſtehe, das Schickſal
des Mannes zu mildern an deſſen Noth ſie mitſchul-
dig war. ö —
Es bedurfte dieſer Mahuung nicht erſt. Schon auf
die erſte Nachricht von ſeiner Handhaftwerdung katte
das Fräulin die Verwandten um Gnade für ihn be-
ſchworen. Jetzt, da der allgemeine Liebling Sigismunds
Braut war, und ſich ſo lieber swüxdig gezeigt hatte, wie
niemals ſonſt, blieb deſſen flehentliche Bitte natürlich noch
weniger wirkungslos, wie immer —es war indeß nun
leider allzu wahr, was Sigismund geſagt: das Recht
mußte ſeinen Lauf haben.
Oer Rath wurde durch das Rathsglöckchen zu einer
außerordentlichen Sitzung berufen und diejenigen ſeiner
Glieder, welche das Gericht bildeten, traten ſogleich zu
einem Thing zuſammen; fie nahmen den Gefangenen ins
Verhör, während Alle, denen er Unrechtz gethan, ſich
gleichfalls eilig auf dem Rathhauſe einfanden. ö
Stolz und gefaßt erſchien Tmymo, wo volr den Schöp-
pen er erklärte: daß er eben, da man ihn über fiel, um
Geleit zum Abtrage der Acht und einem Veſrgleich mit
der Stadt den Rath habe beſchicken wollen. Er hoffe