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Kunigunde, das ſie kurz vor ihrem Hinſcheiden abfaßte.
Sie ſpricht darin von den dunkelblauen Augenſternen
des Kindes, die ganz denen ſeines Vaters gleichen, und
die Kleine, welche wir als unſer Tochterkind erhielten,
hatte ſchon damals ſo hellblaue Augen wie noch heute,
und wie ihre eigene Mutter, die Elſabe Kerbelin, in der
Jugend gehabt. Außerdem erwähnt die Selige einer
Wunde, die ihr Töchterchen durch die verruchte Hand
eines aufſtaͤndiſchen Bauern an der Schulter erhielt, um
derentwillen ſie ſich ſehr geängſtigt habe, die aber ſchon
geheilt ſti und zu vernarben beginne. Nun aber hat
das Mädchen, welches wir für unſere Enkelin hielten,
an ihrem Körper keine Rarbe, wohl aber weiß es meine
Mutter und ich ſelber habe es durch meine ſelige Frau
gehört, daß die angebliche Tochter der Leineweberwittwe
auf ihrer Schulter eine Narbe trägt, wie ein Streif-
ſchuß ſie hinterläßt.“
Benigna umfing ihn, in leiſes Weinen ausbrechend.
Welche Gedanken und Empfindungen in ihr wogten!
Mit allen Faſern ihres Weſens hatte ſie ſich ſtets dieſer
Familie verwebt gefüblt und nun gehörte ſie derſelben
wirklich an! Zugleich aber — ſie ſtreckte die Rechte
nach dem jungen Manne aus, dem ſie nun nicht mehr
angehören ſollte und konnte — wie der Verſtand ihr
ſagte. Faſt krampfhaft drückte ſie ſeine Hand.
Sanft, beſchwichtigend, erwiderte Thymo den Druck.
Er war durchaus nicht erſchreckt durch das, was er
hörte. Kunz ſprach inzwiſchen weiter: „Es hätte gar
nicht erſt des eigenen Eingeſtöndniſſes der Frau bedurft
— wir, beſonders meine Mutter und ich, wunderten
uns, daß uns bisher nie ein Verdacht aufgeſtiegen war
und begreifen unſere Bindheit nicht. Das Kind“, zärt-
lich blickte er auf Benigna, „hat ſo Vieles, was uns an
unſere ſelige Kunigunde mahnt. Ja, Vohtal hielt ſie ſo-
gleich für ſeine Tochter. Auch uns fiel dabei ihre Aehn-
lichkeit mit ihm ſelber auf, aber ich alter Thor war
lind genug, lieber einem ſchmählichen Verdacht Raum
zu geben, den ich hier nicht erörtern will, als auf die
Ahnung der Wahrheit zu verfallen.“
„Meine Aeltermutter“, flüſterte Benigna in einem
Ton, der ihre ganze Liebe für dieſelbe offenbarte.
Die Herren, der Bürgermeiſter an der Spitze, tra-
ten heran, boten ihr die Hand, äußerten ihr Erſtaunen
über dieſe ſeltſame Begebenheit und die Freude, daß die
ſo unerhörte That doch glücklich an's Licht gekommen.
„Und meine Mutter“, wollte ſie nach der alten Ge-
wohnheit fragen, verbeſſerte ſich aber faſt betrübt:
„Die Frau — Kerbelin?“ ö
„Nach ihr wollte ich auch eben fragen“, ſprach das
Oberhaupt der Stadt in bedeutungsvollem Tone.
„Laßt ſie noch vorläufig, Herren und Freunde!“
Kunz Engernſtein räusperte ſich und warf einen eigen-
ühümlichen, faſt ſcheuen Blick auf das Mädchen. „Vor
Allem laßt uns erſt eine andere Angelegenheit zum Aus-
trag bringen, ehe ich das Kind heimführe in mein Haus,
in dem Alle ſich nach ihr ſehnen, wo wir verſuchen
wollen, an ihr Alles nachzuholen, was wir bisher un-
wiſſentlich verſäumten und an die Unrechte — verſchwen-
deten“ — wollte er ſagen, unterdrückte indeß das letzte
Wort. Der Blick auf Thymo ſagte nur allzu deutlich,
was er meinte. ö
Benigna vergaß die ihrer harrende Freude des Wie-
derſehens und die Sehnſucht nach dem Hauſe ihrer Ver-
wandten, beſonders nach der greiſen Urgroßmutter. Thymo
ließ ihre Hand los, die er bisher gehalten hatte.
„Ich verſtehe, aber Ihr macht Euch mit Unrecht
Sorgen, werther Herr und Freund!“ ſagte das Ober-
haupt der Stadt, der regierende Bürgermeiſter. „Dieſe
Jungfrau, Euer Fräulein Enkelin, iſt nicht an den De-
liquenten dort gebunden, iſt ihm in keiner Weiſe ver-
pflichtet. Unſer lieber Kollege“, er wandte ſich zu dem
Rathsherrn, der den Verurtheilten zur Richtſtätte ge-
leitet habe, „vergaß in der Ueberraſchung über der ſchönen
und tugendbelobten Jungfrau Edelmuth etwas gar We-
ſentliches. Und ſeltſamer⸗ oder vielmehr natürlicherweiſe
fiel das bisher keinem Menſchen ein — der Dame am
wenigſten. Das Nächſtliegende wird oft überſehen. Der
junge Geſelle dort, heiße er nun Thymo Rächer oder
wie er ſonſt wolle, hat keir en Anſpruch auf dieſe gegen-
wärtige ebrſame Jungfrau.“ ö
„O, dann wünſchte ich, dieſe Entdeckung wäre nicht
gemacht, und ich die Waiſe des armen Leinewebers ge-
blieben“, rief Benigna. „Und er ſelber hat, wie mein
Herr Großvater ſagt, dazu beigetragen —“
„Mit Verlaub Dame! Auech wenn Ihr wirklich die
Leinewebertochter wäret, für die Ihr bisher galtet, könnte
doch keine Rede davon ſein, daß der alte Brauch, das
Jungfrauenrecht, dieſem Mann zu Gute käme. Er
iſt ja, was ganz überſehen oder vergeſſen wurde im
Drang des Augenblicks — in der Acht. Für den Ge-
ächteten gibt es keinerlei Recht, gleichviel, ob dasſelbe
auf Geſetz oder Herkommen beruhe.“ ö
Bisher hatte Thymo mit Theilnahme, doch mit einem
gewiſſen überlegenen Lächeln der Verhandlung zugehört
— nun ſchwand der Ausdruck der Zuverſicht aus ſeinen
Zügen, um dem der Beſtürzung, des Schreckens, Raum
zu geben. Wie viel ruhiger hatte er noch vor wenigen
Stunden im Richtſaal, ja noch auf dem Wege zur Richt-
ſtätte, ſeinem Schickſal, dem Unvermeidlichen, entgegen-
geſehen! Jetzt — nach dieſem Beweiſe ihrer Liebe war
der Tod, ein ſolcher Tod, unendlich bitterer.
Ihr Antlitz ſchien das ſeinige wiederzuſpiegeln, Tod-
tenbläſſe überzog es. ö
„Nur, da es heute zu ſpät, die Sonne ſchon unter-
gegangen iſt, muß die unterbrochene Rechtfertigung auf
morgen verſchoben werden“, bemerkte der Bürgermeiſter.
„O laßt ihn nicht tödten — nur nicht tödten!“ Sie
machte eine Bewegung, ſich dem geſtrengen Herrn zu Füßen
zu werfen. ö
„Obgleich ich in eine Heirath nicht willigen konnte
— ſeinen Tod wünſche ich jetzt wahrlich noch weniger,
als —“ Der alte Herr unterbrach ſich verſtört — es
ging eine ſo eigenthümliche Veränderung mit dem Mäd-
chen vor. ö
Kunigunde, das ſie kurz vor ihrem Hinſcheiden abfaßte.
Sie ſpricht darin von den dunkelblauen Augenſternen
des Kindes, die ganz denen ſeines Vaters gleichen, und
die Kleine, welche wir als unſer Tochterkind erhielten,
hatte ſchon damals ſo hellblaue Augen wie noch heute,
und wie ihre eigene Mutter, die Elſabe Kerbelin, in der
Jugend gehabt. Außerdem erwähnt die Selige einer
Wunde, die ihr Töchterchen durch die verruchte Hand
eines aufſtaͤndiſchen Bauern an der Schulter erhielt, um
derentwillen ſie ſich ſehr geängſtigt habe, die aber ſchon
geheilt ſti und zu vernarben beginne. Nun aber hat
das Mädchen, welches wir für unſere Enkelin hielten,
an ihrem Körper keine Rarbe, wohl aber weiß es meine
Mutter und ich ſelber habe es durch meine ſelige Frau
gehört, daß die angebliche Tochter der Leineweberwittwe
auf ihrer Schulter eine Narbe trägt, wie ein Streif-
ſchuß ſie hinterläßt.“
Benigna umfing ihn, in leiſes Weinen ausbrechend.
Welche Gedanken und Empfindungen in ihr wogten!
Mit allen Faſern ihres Weſens hatte ſie ſich ſtets dieſer
Familie verwebt gefüblt und nun gehörte ſie derſelben
wirklich an! Zugleich aber — ſie ſtreckte die Rechte
nach dem jungen Manne aus, dem ſie nun nicht mehr
angehören ſollte und konnte — wie der Verſtand ihr
ſagte. Faſt krampfhaft drückte ſie ſeine Hand.
Sanft, beſchwichtigend, erwiderte Thymo den Druck.
Er war durchaus nicht erſchreckt durch das, was er
hörte. Kunz ſprach inzwiſchen weiter: „Es hätte gar
nicht erſt des eigenen Eingeſtöndniſſes der Frau bedurft
— wir, beſonders meine Mutter und ich, wunderten
uns, daß uns bisher nie ein Verdacht aufgeſtiegen war
und begreifen unſere Bindheit nicht. Das Kind“, zärt-
lich blickte er auf Benigna, „hat ſo Vieles, was uns an
unſere ſelige Kunigunde mahnt. Ja, Vohtal hielt ſie ſo-
gleich für ſeine Tochter. Auch uns fiel dabei ihre Aehn-
lichkeit mit ihm ſelber auf, aber ich alter Thor war
lind genug, lieber einem ſchmählichen Verdacht Raum
zu geben, den ich hier nicht erörtern will, als auf die
Ahnung der Wahrheit zu verfallen.“
„Meine Aeltermutter“, flüſterte Benigna in einem
Ton, der ihre ganze Liebe für dieſelbe offenbarte.
Die Herren, der Bürgermeiſter an der Spitze, tra-
ten heran, boten ihr die Hand, äußerten ihr Erſtaunen
über dieſe ſeltſame Begebenheit und die Freude, daß die
ſo unerhörte That doch glücklich an's Licht gekommen.
„Und meine Mutter“, wollte ſie nach der alten Ge-
wohnheit fragen, verbeſſerte ſich aber faſt betrübt:
„Die Frau — Kerbelin?“ ö
„Nach ihr wollte ich auch eben fragen“, ſprach das
Oberhaupt der Stadt in bedeutungsvollem Tone.
„Laßt ſie noch vorläufig, Herren und Freunde!“
Kunz Engernſtein räusperte ſich und warf einen eigen-
ühümlichen, faſt ſcheuen Blick auf das Mädchen. „Vor
Allem laßt uns erſt eine andere Angelegenheit zum Aus-
trag bringen, ehe ich das Kind heimführe in mein Haus,
in dem Alle ſich nach ihr ſehnen, wo wir verſuchen
wollen, an ihr Alles nachzuholen, was wir bisher un-
wiſſentlich verſäumten und an die Unrechte — verſchwen-
deten“ — wollte er ſagen, unterdrückte indeß das letzte
Wort. Der Blick auf Thymo ſagte nur allzu deutlich,
was er meinte. ö
Benigna vergaß die ihrer harrende Freude des Wie-
derſehens und die Sehnſucht nach dem Hauſe ihrer Ver-
wandten, beſonders nach der greiſen Urgroßmutter. Thymo
ließ ihre Hand los, die er bisher gehalten hatte.
„Ich verſtehe, aber Ihr macht Euch mit Unrecht
Sorgen, werther Herr und Freund!“ ſagte das Ober-
haupt der Stadt, der regierende Bürgermeiſter. „Dieſe
Jungfrau, Euer Fräulein Enkelin, iſt nicht an den De-
liquenten dort gebunden, iſt ihm in keiner Weiſe ver-
pflichtet. Unſer lieber Kollege“, er wandte ſich zu dem
Rathsherrn, der den Verurtheilten zur Richtſtätte ge-
leitet habe, „vergaß in der Ueberraſchung über der ſchönen
und tugendbelobten Jungfrau Edelmuth etwas gar We-
ſentliches. Und ſeltſamer⸗ oder vielmehr natürlicherweiſe
fiel das bisher keinem Menſchen ein — der Dame am
wenigſten. Das Nächſtliegende wird oft überſehen. Der
junge Geſelle dort, heiße er nun Thymo Rächer oder
wie er ſonſt wolle, hat keir en Anſpruch auf dieſe gegen-
wärtige ebrſame Jungfrau.“ ö
„O, dann wünſchte ich, dieſe Entdeckung wäre nicht
gemacht, und ich die Waiſe des armen Leinewebers ge-
blieben“, rief Benigna. „Und er ſelber hat, wie mein
Herr Großvater ſagt, dazu beigetragen —“
„Mit Verlaub Dame! Auech wenn Ihr wirklich die
Leinewebertochter wäret, für die Ihr bisher galtet, könnte
doch keine Rede davon ſein, daß der alte Brauch, das
Jungfrauenrecht, dieſem Mann zu Gute käme. Er
iſt ja, was ganz überſehen oder vergeſſen wurde im
Drang des Augenblicks — in der Acht. Für den Ge-
ächteten gibt es keinerlei Recht, gleichviel, ob dasſelbe
auf Geſetz oder Herkommen beruhe.“ ö
Bisher hatte Thymo mit Theilnahme, doch mit einem
gewiſſen überlegenen Lächeln der Verhandlung zugehört
— nun ſchwand der Ausdruck der Zuverſicht aus ſeinen
Zügen, um dem der Beſtürzung, des Schreckens, Raum
zu geben. Wie viel ruhiger hatte er noch vor wenigen
Stunden im Richtſaal, ja noch auf dem Wege zur Richt-
ſtätte, ſeinem Schickſal, dem Unvermeidlichen, entgegen-
geſehen! Jetzt — nach dieſem Beweiſe ihrer Liebe war
der Tod, ein ſolcher Tod, unendlich bitterer.
Ihr Antlitz ſchien das ſeinige wiederzuſpiegeln, Tod-
tenbläſſe überzog es. ö
„Nur, da es heute zu ſpät, die Sonne ſchon unter-
gegangen iſt, muß die unterbrochene Rechtfertigung auf
morgen verſchoben werden“, bemerkte der Bürgermeiſter.
„O laßt ihn nicht tödten — nur nicht tödten!“ Sie
machte eine Bewegung, ſich dem geſtrengen Herrn zu Füßen
zu werfen. ö
„Obgleich ich in eine Heirath nicht willigen konnte
— ſeinen Tod wünſche ich jetzt wahrlich noch weniger,
als —“ Der alte Herr unterbrach ſich verſtört — es
ging eine ſo eigenthümliche Veränderung mit dem Mäd-
chen vor. ö