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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

DOI Kapitel:
Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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Während dieſes Geſprächs hatte er nicht aufgehört
zu rudern, ſo waren wir der Inſel näher gekommen
und konnten nun deutlicher die Stimme ihres einzigen
Bewohners verſtehen. Er fing eben an, nach einer un-
bekannten Volksmelodie ein altes Lied von Treporius zu
fingen, eines Zeitgenoſſen, ſagt man, von Merlin dem
Zauberer. ö ö
„Wenn die Sonne untergeht und das
Meier anſchwellt, ſo ſinge ich auf
der Schwelle meiner Thür. ö
Als ich jung war, habe ich geſungen,
da ich alt bin, finge ich auch noch.
Ich finge bei Nacht, ich ſinge bei Tag
und bin immer traurig.
Wenn ich den Kopf hänge und
traurig bin, ſo habe ich Grund.
Es geſchieht nicht aus Furcht
ich fürchte den Tod nicht.
Ich fürchte mich nicht, ich habe
lange genug gelebt.
Es liegt nicht viel daran, was
geſchehen wird, was geſchehen
ſoll geſchieht.
Es müſſen Alle dreimal
ſterben, ehe ſie endlich Ruhe
finden. —“ ö
(Fortſetzung folgt.)

Die Frauen und das Trinken.
Eine kulturgeſchichtliche Seizze von D. R.
Schluß.)

Noch im letzten Winter kamen mehrere Todesfälle
durch delirium tremens vor, welche nicht etwa Weiber
aus den niederſten Klaſſen betrafen, ſondern zum Theil
junge, wohlbegabte und liebenswürdige Mädchen aus der
Zahl unſerer wohlerzogenen, an feine Lebensweiſe ge-
wöhnten Damen. Es iſt das eine häßliche, kaum glaub-
liche und dennoch unbeſtreitbare Thatſache. Wäre es nicht
von äußerſter Wichtigkeit, dieſe ſociale Wunde in's Auge
zu faſſen, wir würden nicht den Schleier davon weg-
ziehen.“ So lautet die Anklage des großen Hankee-
Blattes gegen die eigenen Landsmänninnen; freilich wußte
die „New-Vork Tribune“ auch mildernde Umſtände vor-
zubringen. Erſtens, ſagt ſie, ſei es die Haſt und das
wilde Wettringen des Erwerbs, welche das amerikaniſche
Leben charakteriſiren, was ſchädlich auf die Geſundheit
der Frauen wirke, deren Nerven⸗Organiſation ſie zum
Gebrauche künſtlicher Erregungsmittel treibe. Schon der
Saͤugling werde mit Syruptränkchen eingelullt, das
kränkliche Schulmädchen erhalte zur Stärkung ſpät und
früh „Tropfen“, und für erwachſene Frauen würden von
den „Elixir“⸗ und „Tonic“⸗Verkäufern allerlei Trink-
waaren ausgeboten, welche angeblich keine Spur von

Alkoholbeimiſchung haben, in der That aber ſehr be-

rauſchend zu wirken pflegen. Opium werde ebenfalls in

ungeahntem Maßſtabe von Damen conſumirt. Eine Reac-
tion gegen dieſe heilloſe Neigung ſei allerdings bemerk-
bar; in vielen guten Höuſern von New⸗York und Waſ-

hington ſchränkte man den Genuß von Spirituoſen auf's

Aeußerſte ein. Dabei aber ſei die Zahl der champagner-
kundigen Matronen doch eine betrübend große, und gar
manche reizende junge Mädchen ſchienen zu glauben,
daß ſie das Herz eines Mannes nicht ſicherer erobern
könnten, als wenn ſie Bacchantinnen glichen.
Als ein Punkt, der dieſe Leidenſchaft der amerikaͤ⸗

niſchen Frauenwelt, beſonders jene der niedern Stände,

vielleicht in etwas entſchuldigen könnte, ſei der Cenſus
der Vereinigten Staaten vom Jahre 1870 hier ange-
führt, der uns einen Einblick gewährt, was amerika-
niſche Frauen leiſten können. Außer Frauen, die gewöhn-
liche Ackerarbeit verrichten, verzeichnet der Cenſus 45
weibliche Vieheintreiber, weibliche Barbiergehülfen, 24
weibliche Zahnärzte, 2 weibliche Hausknechte, 2 weib-
liche profeſſionsmäßige Jäger, 5 weibliche Advokaten,
525 weibliche Aerzte und Chirurgen, 67 weibliche Geiſt-
liche, 2 weibliche Gaſſenkehrer, 7 weibliche Todtengräber,
10 weibliche Bootsleute, 196 weibliche Bierſchröter, 1
weiblicher Lootſe, 6 weibliche Guano⸗Arbeiter, 4 weib-
liche Gasarbeiter, 33 weibliche Waffenſchmiede, 7 weib-
chl Pulverfabrik⸗Arbeiter und 16 weibliche Schiffs-
Takler.
Das aber ſei zur Ehre der deutſchen Frauen

conſtatirt, daß ſchon im vorigen Jahrhundert die bis

dahin beiden Geſchlechtern gemeinſame Untugend des
Trinkens wenigſtens aus den Kreiſen gebildeter Frauen
ſo gut wie gänzlich verſchwunden iſt. Es mag dazu
neben anderen auch der Umſtand beigetragen haben, daß

daß ſeit der Vermehrung der Bierbrauerrien und ſeit

der Einführung des Kaffee's der Wein viele ſeiner Ver-
ehrer verloren hat und meiſtentheils nur noch mäßig
genoſſen wird. Denn wenn auch die neuere Zeit noch
Liebhaber geiſtiger Getränke in hinreichender Zahl auf-
weiſen kann, ſo iſt, wenn auch nach und nach, doch beim
männlichen Geſchlechte ein gleicher Umſchwung zum Beſ-
ſeren vor ſich gegangen. Beiſpiele, wie ſie im dreißigjäh-
rigen Kriege vorkamen, mögen in der Gegenwart ſelten
ſein, und Scenen, wie ſie Herr von Pöllnitz im vorigen
Jahrhundert tagtäglich ſah, gehören heutzutage an einem
deutſchen Fürſtenhofe unbedingt zu den unmöglichen
Dingen.
Unſere Leſerinnen aber mögen vorſtehende Blumen-
leſe, die — offen geſtanden — nicht ganz den Anforde-
rungen der Galanterie entſpricht, betrachten als das,
was ſie ſein ſoll, als die Ergebniſſe eines harmloſen
kleinen Streifzugs durch ein weniger betretenes Gebiet
der Kulturgeſchichte. ö
 
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