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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 52 - Nr. 60 (1. Juli - 29. Juli)
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203

nicht abwenden; ſie wußte nicht einmal, ſie konnte nicht
ahnen, was es war. In ſolchen Lagen tritt unwillkür-
lich das vergangene Leben vor die Seele des Menſchen.
Das Leben der Frau war unzertrennlich mit dem gan-
zen Leben ihrer Herrin verknüpft geweſen, mit deren
Freuden und Leiden. ——*
Die Mutter der Frau
frau bei der Mutter der Generalin geweſen. Ihrer
Mutter war die Tochier gefolgt, zuerft im Dienſte der
älteren Dame, dann in dem ihrer jetzigen Herrin, als
dieſe den General heirathete.
Aber eine alte Dame war die Mutter der Gräfin
Waldern noch nicht. Liider noch nicht! mußte die
Kammerfrau ſich ſagen. Es wäre wobl manches anders
gekommen. Dieſe ruſſiſche Grenze bätten wir nie ge-
Rihen; wit dieſer Schreckensnacht wären wir verſchont
geblieben, was wird ſie uns noch bringen? Um meines
Seelenheiles willen ſollte ich meine Herrin verlaſſen!
Was ſollte das heißen? Der Wachtmeiſter iſt ein treuer
Diener, treu ſeinem Herrn, ſeiner Herrin. ö
Sie verfiel in tiefes Nachſinnen. ö
Um ſie her war es ſtill geblieben, im Schloſſe, auf
dem Hofe, in der näheren und ferneren Umgebung.
Die Stille draußen wurde plötzlich unterbrochen;
nicht laut, nicht arf einmal, deſto unheimlicher.
Ein einzelner Schritt wurde hörbar unten auf dem
Schloßhof. Es war Jemand auf den Hof getreten, um
das Schloß herum. Er machte wenige Schritte voran,
kehrte zurück. Im Augenblick nachher vernahm man den
Tritt mehrerer Menſchen. Sie gingen leiſe, kamen ein-
zeln heran, wie es ſchien, alle von der Seite des Schloſ-
ſes her. In der Nähe des Schloſſes machten fie halt.
Kein Ton einer Stimme wurde laut, wenn ſie mit ein-
ander ſprachen, ſo mußten ſie flüſtern. Ihre Anweſen-
heit konnte im Schloſſe von Niemanden wahrgenommen
werden, der nicht auf ein außerordentliches Ereigniß die-
ſer Nacht ausdrücklich vorbereitet war. Die Frau Er-
hardt war es. Anf das Schrecklichſte ſollte ſie nach den
Worten des Wachtmeiſters ſich gefaßt halten. Was es
war, hatte er nvicht einmal angedeutet Warum nicht, das
war ihr wohl ein Räthſel. Aber hatte ſie nicht noch
wenigen Stunden vorher ſelbſt ihre Angſt vor einem At
tentate pelniſcher Inſurgenten gegen den General, den
Liebling des ruſfiſchen Kaiſers, ausgeſprochen? Und wie
ſie das leiſe, heimliche Zuſammentreten der Menſchen wahr-
nehmen mußte, wurde ihre unbeſtimmte Angft zu eiuer
greifbaren Gewißheit. Die Jaſurgenten waren da zu ei-
nem Ueberfall des Schloſſes, zu einem rachevollen Atten-
tat gegen das Leben des Generals.
CFortſetzung folgt.)

Vermiſchtes.

Ein veklagenswerther Heiliger.) Iitorus
auf der Toledo⸗Brücke in Madrid iſt ein Rober und

ſehr geſchätzter Heiliger, aber allen Leuten kann er's

Erhardt war ſchon Rammer-

nicht recht machen. Er hat zwei Aemter, denn er iſt
einer der Schutzpatrone von Madrid udd zugleich der
Schutzteilige der Ernte in ganz Spanien. Die Ernte-
ausſichten waren wenig erbaulich, die von den Heuſchrecken
verſchonten Feldfrüchte drohten zu verdorren, Regen war
dringend nöthig. Da kamen die dem heiligen Iſidor ge-
weihten Tage des 13. bis 15. Mai. Aus Nah und
Fern ſtrömten die Bauern nach Madrid, um von dem
guten Heiligen, der feſtlich geſchmückt auf der Toledo-
Brücke ſteht, einen milden Rezen zu erflehen, währen-
die Gaſtwirthe, die Schaubudenbefitzer, die Eßwaarer-
händler ebenſo eifrig um Sonnenſchein beteten. Anfäng-
lich ſchien der heilige Iſidor die Partei der Städter ge-
gen die Bauern zu nehmen; bis zum 13. Mai war
prächtiges Wetter und die Sonne ging ſtrahlend auf.
Die Budenubefitzer ſchwammen in Wonne, die Bauern
jammerten und ſchlugen ſich die Bruſt vor dem Heili-
genbild. Um 10 Uhr Vormittags ſchlug jedoch der Wind
plötzlich um, der Himmel bedeckte ſich mit Wolken, am
Nachmittag erhob ſich ein Sturm urd Abends begann es
zu regnen. „Hat nichts zu ſagen!“ troſteten ſich die Ma-
drider, „morgen wird es wieder ſchönes Wetter ſein!“
Aber es regnete auch den andern Tag. „Wenn es vur
den dritten Tag wieder aufhöre!“ ging es nun ſchon
kleinlauter durch die Reihen der Budenbeſitzer. Jedoch
auch den dritten Tag regnete es. Die Landbewohner
zogen durchnäßt, aber mit fröhlichen Geſichtern, den
heiligen Ifidorius, der den Bauern nicht zu Schanden
werden läßt, preiſend heim. Bei den Madridern aber
ftellte ſich eine furchtbare Erbitterurg gegen den Schutz-
patron ein, welche ſogar in Thätlichkeit gegen den Heili-
gen, d. h. deſſen Bild, überging. Ein altes Weib,
welches mit Pfeffernüſſen handelte, hatte ihren Stand
auf der Toledo⸗Brücke, dem Heiligen gegenüber. Der
Wind hatte ihr Zelt umgeweht, der Regen ihre Waaren
durchnäßt, voll Zorn griff ſie am dritten Tage in ihre
durchweichten Pfeffernüſſe hinein, formte eine Kugel und
warf dieſe mit einem derben Fluch dem Heiligen in's
Geſicht. Dies war das Zeichen, daß ſämmtliche Buden-

beſitzer mit Steinen und ſonſtigen Gegenſtänden ein

Bombardement auf den Heiligen eroffneten. Der Pfarrer
von San Iſinoro eilte zum Schutze ſeines Patrons her-
bei. Umſrnſt! „Nieder mit dem Faullenzer! Nieder
mit dem Schelm!“ heulte die Menge. Die anweſenden
Polizeidiener waren zum ernſtlichen Einſchreiten ohn-
mächtig. Als jedoch die abziehenden Landleute vernah-
men, wie man ihrem Heiligen mitſpielte, machten fie
Kehrt und ergriffen deſſen Partei: Meſſer wurden ge-
zogen, Flinten abgefeuert und das Schlußbild des Feſtes
bildete eine Anzahl Todter und Verwundeter zu Ehren
des heiligen Iſidorius. — ö

(In Frankreich) iſt man ſoeben auf dem beſten
Wege, die einjährige Dienſtzeit wieder abzuſchaffen. Die
Miniſter ſollen ſich dem Vorhaben geneigt zeigen, jedoch
nur unter der Bedingung — daß dieſe Abſchaffung auch
fuͤr ſie gelte.
 
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