Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 10.1894-1895
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https://doi.org/10.11588/diglit.11055#0229
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Schultze-Naumburg, Paul: Deutsche Kunstkritiker, [2]
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von Paul 5chultze>Naumburg.
NS
Über (seit 1867 Professor der Architekturgeschichte am dortigen Polytechnikum) und leitete hier gemeinsam mit
dem Fürsten Czartoryski das demselben gehörige Kunstblatt „Recensivnen", aus dem 1866 die „Zeitschrift für
bildende Kunst" hervorging, die Lützow während der 30 Jahre ihres Bestehens allein geleitet hat. — Besser
als fremde Worte charakterisieren Lützow seine eigenen, die er an den Schluß der Einleitung zum neuen Jahr-
gange setzte: „Man sieht, die Bahnen der Modernen führen aufwärts. Dankbar des guten Alten eingedenk,
freuen wir uns des allgemeinen Vordringens zu höheren Zielen und folgen den Bahnbrechern mit Begeisterung.
Nur vergesse keiner von den Rufern im Streit, daß jedes heute morgen gestern ist, und bewahre Bescheidenheit
im Glück gegenüber den Besiegten." Dazu kann jeder Billigdenkende nur von ganzem Herzen beistimmen. Es
stände gut in der Welt, träfe man allerorts auf solche Gesinnung.
4- -t-
*
Die beschriebenen Blätter liegen vor mir. Ich überfliege noch einmal die Namen. Wieviel Arbeit
und Mühe, mutiges Ringen und Kampf, Enttäuschung und Sieg, Haß und Liebe ist nicht mit ihnen und
ihrer Künstler Werk verbunden? Wohin strebt es? Wer wird ihr Erbe sein?
Die Zeit schreitet rascher wie früher. Veränderungen, Umbildungen, Neubildungen gehen in kurzen
Epochen vor sich; wo frühere Kulturen Jahrhunderte brauchten, das 6n cks siscls thut's in einem Dezennium.
Der Eiffelturm ragte in Jahresfrist wohl über dreihundert Meter hoch; aber die Cheopspyramide steht fester.
Es war rasch da, das Fundament der neuen Kunst, wir krankes Geschlecht riefen nach Luft, frischer Luft,
Wahrheit, Natur. Sie kam. Hastig, wie einem Todkranken die Labung gebracht wird. Der Keim des Todes, wer
will ihn leugnen? Der Keim des mit Träumen lockenden, verführerischen Wahnsinns ? Ist nicht wie Pilze über Nacht
die verlockende giftige Saat aufgeschossen, ranken nicht schon, gestern noch hier und da, heute schon tausendfach,
überall die wollüstigen, süßen Giftblumen der Decadence um uns? Man verheißt eine neue Renaissance.
Wenn's nun so wäre? Wenn der Übermensch nicht käme? Wenn in Europa der Menschheit heiterer
Morgen gewesen wäre, als Griechenland hehre Götterwerke schuf, nach grauen Schatten geheimnisvollen
Stammelns indischer Mutterlaute. Heller Mittag war's. Die Renaissance begann. Blendende Sonne und dunkle
Schlagschatten enthüllten die plastische Größe der neubefruchteten Kultur. Und als nun der Abend kam und
noch einmal froh und glühend alle Farben spielten, während die Sonne herniedersank und Licht und Schatten
sich einten, glaubt nun die Welt, ein neuer Morgen sei gekommen. Doch violette Lichter schießen wie Strahlen
empor, Herolde der Dunkelheit. Sieht man denn nicht die müden düsteren Nebel auftauchen, Dämmerlicht sich
ausbreiten, die Körper sich auflösen, untertauchen? Bald kommt die Nacht. Noch ist's weit zum Morgen.
Doch nun fort mit solchen Gedanken, die der trübe Tag gebar. Was kommt, wer weiß es? Fließt
nicht jeder Tag ins Ungewisse? Dort gleitet der Strom, der unser Land befruchtet, seinen Fluten müssen wir
uns anvertrauen und uns schaukeln und treiben lassen von seinen Wellen. Wohin, wohin? Nur das eine wissen
wir. Noch einmal erstarkt an der Brust der Mutter erhebt sich der Genius zum neuen — letzten — Fluge.
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NS
Über (seit 1867 Professor der Architekturgeschichte am dortigen Polytechnikum) und leitete hier gemeinsam mit
dem Fürsten Czartoryski das demselben gehörige Kunstblatt „Recensivnen", aus dem 1866 die „Zeitschrift für
bildende Kunst" hervorging, die Lützow während der 30 Jahre ihres Bestehens allein geleitet hat. — Besser
als fremde Worte charakterisieren Lützow seine eigenen, die er an den Schluß der Einleitung zum neuen Jahr-
gange setzte: „Man sieht, die Bahnen der Modernen führen aufwärts. Dankbar des guten Alten eingedenk,
freuen wir uns des allgemeinen Vordringens zu höheren Zielen und folgen den Bahnbrechern mit Begeisterung.
Nur vergesse keiner von den Rufern im Streit, daß jedes heute morgen gestern ist, und bewahre Bescheidenheit
im Glück gegenüber den Besiegten." Dazu kann jeder Billigdenkende nur von ganzem Herzen beistimmen. Es
stände gut in der Welt, träfe man allerorts auf solche Gesinnung.
4- -t-
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Die beschriebenen Blätter liegen vor mir. Ich überfliege noch einmal die Namen. Wieviel Arbeit
und Mühe, mutiges Ringen und Kampf, Enttäuschung und Sieg, Haß und Liebe ist nicht mit ihnen und
ihrer Künstler Werk verbunden? Wohin strebt es? Wer wird ihr Erbe sein?
Die Zeit schreitet rascher wie früher. Veränderungen, Umbildungen, Neubildungen gehen in kurzen
Epochen vor sich; wo frühere Kulturen Jahrhunderte brauchten, das 6n cks siscls thut's in einem Dezennium.
Der Eiffelturm ragte in Jahresfrist wohl über dreihundert Meter hoch; aber die Cheopspyramide steht fester.
Es war rasch da, das Fundament der neuen Kunst, wir krankes Geschlecht riefen nach Luft, frischer Luft,
Wahrheit, Natur. Sie kam. Hastig, wie einem Todkranken die Labung gebracht wird. Der Keim des Todes, wer
will ihn leugnen? Der Keim des mit Träumen lockenden, verführerischen Wahnsinns ? Ist nicht wie Pilze über Nacht
die verlockende giftige Saat aufgeschossen, ranken nicht schon, gestern noch hier und da, heute schon tausendfach,
überall die wollüstigen, süßen Giftblumen der Decadence um uns? Man verheißt eine neue Renaissance.
Wenn's nun so wäre? Wenn der Übermensch nicht käme? Wenn in Europa der Menschheit heiterer
Morgen gewesen wäre, als Griechenland hehre Götterwerke schuf, nach grauen Schatten geheimnisvollen
Stammelns indischer Mutterlaute. Heller Mittag war's. Die Renaissance begann. Blendende Sonne und dunkle
Schlagschatten enthüllten die plastische Größe der neubefruchteten Kultur. Und als nun der Abend kam und
noch einmal froh und glühend alle Farben spielten, während die Sonne herniedersank und Licht und Schatten
sich einten, glaubt nun die Welt, ein neuer Morgen sei gekommen. Doch violette Lichter schießen wie Strahlen
empor, Herolde der Dunkelheit. Sieht man denn nicht die müden düsteren Nebel auftauchen, Dämmerlicht sich
ausbreiten, die Körper sich auflösen, untertauchen? Bald kommt die Nacht. Noch ist's weit zum Morgen.
Doch nun fort mit solchen Gedanken, die der trübe Tag gebar. Was kommt, wer weiß es? Fließt
nicht jeder Tag ins Ungewisse? Dort gleitet der Strom, der unser Land befruchtet, seinen Fluten müssen wir
uns anvertrauen und uns schaukeln und treiben lassen von seinen Wellen. Wohin, wohin? Nur das eine wissen
wir. Noch einmal erstarkt an der Brust der Mutter erhebt sich der Genius zum neuen — letzten — Fluge.
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