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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 16.1900-1901

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Schultze-Naumburg, Paul: Neues von Max Liebermann
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https://doi.org/10.11588/diglit.12079#0167

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-=^s£> MAX LIEBERMANN -CSs^

beginnt erst dann, wenn sie die objektiv
gleichmässige Wiedergabe verlässt. Künstler
ist ja derjenige, der eben mehr sieht, als die
photographische Linse, der nicht nur die
Oberfläche erblickt, sondern der hinter den
Dingen zu sehen vermag. Der Nicht-Künstler
sieht optisch genau so scharf, aber er läuft
an den Erscheinungen der Welt vorbei, vor
denen der Künstler stehen bleibt, um sie zum
Träger des Ausdrucks der Empfindungen zu
machen, die er im Kunstwerk dem Beschauer
mitteilen will. Und er thut dies, nicht indem
er wie bei der Photographie einfach die op-
tische Erscheinung der Dinge wiederholt, son-
dern indem er sie vereinfacht und dadurch
klärt. Und durch Betonen und Abschwächen,
durch Hinzufügen und Weglassen von dem
und jenem, nach Massgabe dessen, was ihm
wesentlich oder gleichgültig ist, zwingt der
Künstler den Beschauer, gleichsam durch
seine Augen zu sehen und befähigt ihn da-
durch, das gegenüber dem Abbild der Welt
zu erleben, was diesem vor der realen Welt
nicht möglich, sondern was das Vorrecht des
Künstlers blieb.

Der einzelne Künstler kann nicht alle Mög-
lichkeiten, die bildlich gesprochen, für uns
„in der Natur liegen", herausheben. Nur
eine oder einige kann er zum Ausdruck bringen,
denn es geht mit ihnen, wieder bildlich ge-
sprochen, wie mit den Farben : sie löschen sich
gegenseitig aus, sie heben sich auf. Die Er-
fahrung hat im sicheren Schiffbruch der
Eklektiker es uns stets bestätigt, denn ein
jeder Künstler „bringt andere und doch stets
dieselbe Perle aus dem Ozean der Schönheit
zum Licht".

Je geringer der Zweifel des Beschauers,
was es in der Zeichnung auszudrücken galt,
je stärker der Zwang des Künstlers, mit seinen
Augen d. h. mit seinen Interessen, seiner
Liebe, seiner Abneigung zu sehen, desto reiner
wird im Werke die Absicht des Gewollten
zum Ausdruck kommen. Je einfacher aber
eine Sprache ist, desto verständlicher wird
sie sein, auch wenn es die Sprache der Kunst
ist. Es stimmt dies in der Praxis genau mit
den Erfahrungen überein. Die meisterhaftesten
Zeichnungen zeichnen sich stets durch ihre
Einfachheit aus. Wohlverstanden : es braucht

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