den Hintergrund treten soll, dass man es ganz über- die Kartons zu den Wandgemälden im South-Ken-
sieht, so ist mein Gedanke dabei ganz und gar sington-Museum. Die Harmonie dieser Werke ist
nicht der, dass der Künstler auf positive Kenntnisse entzückend. Die Farbe Sanzios ist eine ganz andere
und Fachwissen verzichten könne. als die Farbe Rembrandts; allein sie ist gerade die,
Man muss im Gegenteil eine ganz vollendete die seine künstlerische Eingebung und Eigenart ver-
Technik haben, um sein Wissen nicht merken langt. Sie ist klar und mit einem weichen Schmelz
zu lassen. Ohne Zweifel sind für den gemeinen überzogen. Sie weist frische, blühende, lebensfrohe
Mann die Taschenspieler, die Zierate und Ära- Abtönungen auf. Sie hat die ewige Jugend, die
besken mit ihrem Stift ausführen, die blendende Raffael selbst verkörperte. Sie erscheint unwirk-
Farbenfeuerwerke verfertigen
oder Sätze schreiben, die reich-
lich mit seltsamen, ungewöhn-
lichen Wörtern durchwirkt
sind, die geschicktesten Leute
von der Welt. Aber die grosse
Schwierigkeit und der Gip-
fel der Kunst ist es, einfach
und natürlich zu zeichnen, zu
malen und schreiben.
Setzen Sie den Fall, Sie
haben soeben ein Gemälde ge-
sehen, eine Seite gelesen; Sie
haben dabei weder auf die
Zeichnung, noch auf die Farben-
gebung, noch auf den Stil ge-
achtet; aber Sie sind bis in das
Innerste Ihres Herzens hinein
bewegt. Fürchten Sie nicht,
dass Sie sich dann täuschen
könnten: Zeichnung, Farbe oder
Stil zeichnen sich durch eine
vollkommene Technik aus."
„Kann es aber nicht doch
vorkommen, verehrter Meister,
dass durchaus ergreifende Kunst-
werke an irgendeiner Unvoll-
kommenheit des Metiers leiden?
Sagt man nicht zum Beispiel,
dass die Gemälde Raffaels oft
HEKM. HALLER, STEHENDER JUNGLING
BRONZE
lieh; aber das kommt daher,
dass die von dem Maler von
Urbino beobachtete Wirklich-
keit durchaus nicht die Wirk-
lichkeit der rein materiellen
Dinge ist: sie ist das Reich
des Gefühls, eine Zone, wo
Form und Farbe von dem
Lichte der Liebe umgestaltet
werden.
Ohne Zweifel könnte ein
starrsinniger Realist diese Far-
bengebung als falsch verur-
teilen; allein die Dichter emp-
finden sie als richtig. Und
was ganz sicher ist: wollte
man Rembrandts oder Rubens'
Farbengebung mit der Zeich-
nung Raffaels verbinden, so
würde das Resultat lächerlich
und ungeheuerlich sein.
Ebenso unterscheidet sich
Rembrandts Zeichnung von der
Raffaels, aber sie ist nicht we-
niger gut.
So weich die Linien San-
zios sind, so schroff und hart
ist oft die Linienführung Rem-
brandts. Der Künstlerblick des
grossen Holländers bleibt an
den rauhen Falten der Ge-
wänder, an den Runzeln der
eine schlechte Farbengebung aufweisen und die alten Gesichter, an den Schwielen auf den Plebejer-
Bilder Rembrandts eine Zeichnung, die nicht ein- händen haften; denn in Rembrandts Augen ist
wandfrei ist?" die Schönheit nichts anderes als der ausgesprochene
„Man hat unrecht, glauben Sie mir! Gegensatz, den man zwischen der Alltäglichkeit
Wenn die Meisterwerke Raffaels die Seele ent- der körperlichen Hülle und dem Leuchten und
zücken, so geschieht dies darum, weil alles an ihnen, Strahlen des Inneren feststellen kann. Wie sollte
auch Farbengebung und Zeichnung, zu diesem be- er dann jene aus augenscheinlicher Hässlichkeit und
zaubernden Eindruck beiträgt. moralischer Grösse zusammengesetzte Schönheit
Betrachten Sie den kleinen ,Heiligen Georg' im darstellen, wenn er mit Raffaels Eleganz zu wett-
Louvre, den ,Parnass' im Vatikan; betrachten Sie eifern suchte?
IOO
sieht, so ist mein Gedanke dabei ganz und gar sington-Museum. Die Harmonie dieser Werke ist
nicht der, dass der Künstler auf positive Kenntnisse entzückend. Die Farbe Sanzios ist eine ganz andere
und Fachwissen verzichten könne. als die Farbe Rembrandts; allein sie ist gerade die,
Man muss im Gegenteil eine ganz vollendete die seine künstlerische Eingebung und Eigenart ver-
Technik haben, um sein Wissen nicht merken langt. Sie ist klar und mit einem weichen Schmelz
zu lassen. Ohne Zweifel sind für den gemeinen überzogen. Sie weist frische, blühende, lebensfrohe
Mann die Taschenspieler, die Zierate und Ära- Abtönungen auf. Sie hat die ewige Jugend, die
besken mit ihrem Stift ausführen, die blendende Raffael selbst verkörperte. Sie erscheint unwirk-
Farbenfeuerwerke verfertigen
oder Sätze schreiben, die reich-
lich mit seltsamen, ungewöhn-
lichen Wörtern durchwirkt
sind, die geschicktesten Leute
von der Welt. Aber die grosse
Schwierigkeit und der Gip-
fel der Kunst ist es, einfach
und natürlich zu zeichnen, zu
malen und schreiben.
Setzen Sie den Fall, Sie
haben soeben ein Gemälde ge-
sehen, eine Seite gelesen; Sie
haben dabei weder auf die
Zeichnung, noch auf die Farben-
gebung, noch auf den Stil ge-
achtet; aber Sie sind bis in das
Innerste Ihres Herzens hinein
bewegt. Fürchten Sie nicht,
dass Sie sich dann täuschen
könnten: Zeichnung, Farbe oder
Stil zeichnen sich durch eine
vollkommene Technik aus."
„Kann es aber nicht doch
vorkommen, verehrter Meister,
dass durchaus ergreifende Kunst-
werke an irgendeiner Unvoll-
kommenheit des Metiers leiden?
Sagt man nicht zum Beispiel,
dass die Gemälde Raffaels oft
HEKM. HALLER, STEHENDER JUNGLING
BRONZE
lieh; aber das kommt daher,
dass die von dem Maler von
Urbino beobachtete Wirklich-
keit durchaus nicht die Wirk-
lichkeit der rein materiellen
Dinge ist: sie ist das Reich
des Gefühls, eine Zone, wo
Form und Farbe von dem
Lichte der Liebe umgestaltet
werden.
Ohne Zweifel könnte ein
starrsinniger Realist diese Far-
bengebung als falsch verur-
teilen; allein die Dichter emp-
finden sie als richtig. Und
was ganz sicher ist: wollte
man Rembrandts oder Rubens'
Farbengebung mit der Zeich-
nung Raffaels verbinden, so
würde das Resultat lächerlich
und ungeheuerlich sein.
Ebenso unterscheidet sich
Rembrandts Zeichnung von der
Raffaels, aber sie ist nicht we-
niger gut.
So weich die Linien San-
zios sind, so schroff und hart
ist oft die Linienführung Rem-
brandts. Der Künstlerblick des
grossen Holländers bleibt an
den rauhen Falten der Ge-
wänder, an den Runzeln der
eine schlechte Farbengebung aufweisen und die alten Gesichter, an den Schwielen auf den Plebejer-
Bilder Rembrandts eine Zeichnung, die nicht ein- händen haften; denn in Rembrandts Augen ist
wandfrei ist?" die Schönheit nichts anderes als der ausgesprochene
„Man hat unrecht, glauben Sie mir! Gegensatz, den man zwischen der Alltäglichkeit
Wenn die Meisterwerke Raffaels die Seele ent- der körperlichen Hülle und dem Leuchten und
zücken, so geschieht dies darum, weil alles an ihnen, Strahlen des Inneren feststellen kann. Wie sollte
auch Farbengebung und Zeichnung, zu diesem be- er dann jene aus augenscheinlicher Hässlichkeit und
zaubernden Eindruck beiträgt. moralischer Grösse zusammengesetzte Schönheit
Betrachten Sie den kleinen ,Heiligen Georg' im darstellen, wenn er mit Raffaels Eleganz zu wett-
Louvre, den ,Parnass' im Vatikan; betrachten Sie eifern suchte?
IOO