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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 10.1912

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Heft 12
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Heinersdorff, Gottfried: Die Glasmalereien der Notre-Dame von Chartres
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https://doi.org/10.11588/diglit.4707#0608

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Auftakt zu der überwältigenden Sym-
phonie von Chartres. Niemand, der
Freude an dem berauschenden Reiz far-
biger Gläser hat, sollte diesen Abstecher
von Paris scheuen, ganz abgesehen da-
von, dass die Notre-Dame in Chartres
auch sonst als das herrlichste und reinste
Bauwerk der frühesten Gotik gilt.

Nicht ganz zwei Stunden braucht
der Zug, um einen vom Gare du Mont
Parnasse westwärts ans Ziel zu führen.
Die abwechslungsreiche Fahrt geht über
Versailles durch dunkle Wälder und
weite, gesegnete Kornfelder, durch das
flache Land derBeauce, der Getreidekammer Frank-
reichs. Chartres ist ihr Mittelpunkt. Ein freund-
liches, stilles Landstädtchen mit 20000 Einwohnern,
zum Glück für die Erhaltung der Fenster der Kirche
fast ohne Industrie, deren Schlote mit ihrem Russ
und Gas sonst der Herrlichkeit ein schnelleres Ende
bereiten würden.

Nur wenige hundert Schritte vom Bahnhof
entfernt liegt die Kathedrale: weit über die stillen,
einfachen und niedrigen Häuser hinaus ragen die
beiden Türme. Der rechte südliche ist gleichzeitig
mit dem frühesten Bauteil um die Wende des zwölf-
ten Jahrhunderts hochgeführt und bildet eine wuch-
tig ernste, ganz festgeschlossene achtseitige Stein-
pyramide. Der linke, nördliche wurde etwa drei-
hundert Jahre später errichtet in einer Zeit, die
zierlich und fast spielerisch alle Flächen zu leichten
Türmchen, Fialen und krausem Maassenwerk auf-
löste.

Durch saubere, schmale und winklige Strassen
mit schmucken Magazinen gelangt man schnell und
doch ganz unvermittelt vor die Portale des Domes.
Die kleinen Häuser, in die er mitten hineingebettet
ist, geben den richtigen Maasstab für die gewaltigen
Abmessungen, die noch erdrückender dadurch er-
scheinen, dass man eine ganz fensterlose Mauer-
masse vor sieh zu haben glaubt.
Die Gläser haben in den sieben-
hundert Jahren, in denen Wind
und Wetter gegen sie brausten
eine so feine graue Patina (Wet-
terstein) auf ihrer Aussenhaut
bekommen, dass sie für das Auge
von aussen völlig mit dem ver-
witterten grauen Kalkstein zu-
sammengehen und thatsächlich
zunächst gar nicht in die Er-

scheinung treten. Aus dieser geschlosse-
nen, strengen Steinmasse, die nur durch
ihre prachtvolle Gliederung und das edle
Maass ihrer Abmessungen zu wirken
sucht, schieben sich einem von Süden,
Westen und Norden je drei mächtige
Portale entgegen, auf die nun die ganze
Freude am Schmücken und Ornamen-
tieren geschüttet zu sein scheint. Pro-
pheten und Apostel, Könige und Köni-
ginnen in der stolzen Grösse ihrer oft
zehn Kopflängen stehen steif und doch
beseelt an reich durchbrochenen und
filigranartig aufgelösten Säulen, eine
stumme, steinerne Schildwacht, die in ihrer Strenge
geradezu erdrückend wirkt.

In glühender Sonne liegt der graue Stein. Aus
Mauerrissen drängt das frische Grün. Ein warmer,
blendender Frühlingstag ruht unter einem wolken-
losen, heiteren Himmel.

Die Sonne ist sonst nicht die Freundin des
Glasmalers, der dem Baedeker misstraut, wenn er
den Besuch eines Domes der Fenster wegen bei
ihrem Schein empfiehlt. Ihr Glanz lässt oft die
wohlerwogenen und weislich abgestimmten Farben-
symphonien der gemalten Scheiben ganz anders
erklingen, als es das gleichmässige Nordlicht der
Werkstatt gethan. Wo eben noch bei bedecktem
Himmel ein brennendes Rot, ein sattes Blau, ein
silbernes Weiss und ein saftiges Grün eine herr-
liche Einheit und einen warmen Akkord bildeten,
entsteht in den Flimmern der Sonne häufig eine
starke Disharmonie. In Chartres jedoch ist die
Sonne wohl zu brauchen. Zu stark liegen hier
Staub und Schmutz auf den Scheiben, um bei
trübem Wetter noch einen vollen Genuss zu ermög-
lichen.

Um so grösser ist dann zunächst der Gegen-
satz zwischen der sonnigen Welt vor den Portalen
und dem völligen Dunkel im In-
nern der Kathedrale. Ganz all-
mählich gewöhnt sich erst das
Auge an diesen Wechsel der Be-
leuchtung und nun strahlen
einem magisch aus der geheim-
nisvollen Dämmerung von allen
Seiten tiefleuchtende, bunteste
Teppiche glühend entgegen.

Die überwältigende Pracht
dieses ersten Eindrucks lässt sich
nicht in Worten schildern. Es

-im

59°
 
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