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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 10.1912

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Heft 12
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Heinersdorff, Gottfried: Die Glasmalereien der Notre-Dame von Chartres
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https://doi.org/10.11588/diglit.4707#0612

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während Christus selbst mit gesenkten
Händen in die Zweige greift. Sieben
Scheiben umkreisen den Erlöser, jede
umgeben von einem Schriftenring, in
denen die grossen Tugenden, sapientia,
fortitudo usw. verzeichnet sind.

Zu Schriftbändern und Tafeln
greifen die Glasmaler nur dort, wo
sie allein durch die Darstellung den Inhalt nicht aus-
reichend erklärt glaubten. Die Fenster sollten ja
sicher in erster Linie Bilderpredigten für die des
Lesens unkundige Gemeinde sein. So finden sich
vor allem fast immer Namensinschriften bei den
Einzeldarstellungen von Königen, Propheten und
Aposteln, die man in jener Epoche noch nicht durch
bestimmte Attribute charakterisierte. Sehr geschickt
wurden diese Schriftstreifen dann zur Belebung und
Gliederung der Komposition verwandt.

Die schönsten Beispiele hierfür bilden die beiden
grossen Rosen in der nördlichen und der südlichen
Portalvorhalle mit den je fünf darunter befindlichen
schlanken Spitzbogenfenstern. Die nördliche wurde
ioii —19 iz restauriert, so dass man von der
Rüstung aus die Arbeit in allen Einzelheiten und in
nächster Nähe betrachten konnte.

Überraschend ist dabei die grosse Ähnlichkeit
der Auffassung mit der der Königsfenster im Strass-
burger Münster, zu dessen Bau, wie sicher feststeht,
Architekten und Bildhauer von Chartres kamen.
Ohne Zweifel sind ihnen auch die Glasmaler gefolgt.
Melchisedek, David, Salomo und Aron flan-
kieren die heilige Anna, die die Maria als Kind auf
dem Arme trägt. Die Männergestalten messen über
doppelte Lebensgrüsse und Marias Mutter übertrifft
sie noch um Haupteslänge. In entsprechenden
Fenstern über dem Südportal stehen die grossen
Propheten des Alten Testaments und tragen aufihren
Schultern die Evangelisten, die über diesen Riesen-
gestalten kindlich klein wirken.

Während der Kopf der Grande-Vierge aus

einem Stück Glas geschnitten wurde,
sind bei diesen zehn grossen Fi-
guren die Augen aus anders gefärb-
tem Glas herausgeschnitten und ein-
gebleit, was die gleichfalls in Strass-
burg wiederkehrende, brillenartige
Wirkung ergibt, die man hier vom
Schiff der Kirche aus kaum wahr-
nimmt. Wenn es auch wahrscheinlich ist, dass
die Glasmaler zu diesem Zerlegen der Köpfe
aus technischen Gründen schritten, weil sie
Glasstücke in der notwendigen Grösse nicht her-
zustellen und später nicht zu brennen vermochten,
so muss man doch staunend zugeben, dass sie es
überraschend gut verstanden, aus dieser Not eine
Tugend zu machen. Der Eindruck der Gesichter
ist dadurch prachtvoll gesteigert und verstärkt.
(Siehe die kleinen Textillustrationen.)

Einen starken Gegensatz hierzu bilden die dar-
überliegenden ganz klein aufgelösten Rosetten mit
ihren kleinen Gestalten der Könige und Propheten.
Diese letzten sind nur 5 5 Zentimeter gross, aber klar
leuchtet ihr Name der Gemeinde auf den verhältnis-
mässig breiten Schriftstreifen entgegen. Wie diese
Streifen in dem viel geteilten Maasswerk angeord-
net sind, ist ein Meisterstück der Komposition.

Es würde zu weit führen, hier mehr von Einzel-
heiten zu erzählen. Man könnte mit ihnen ein
ganzes Buch füllen. Der Zweck dieses Aufsatzes
sollte nur sein, Interesse zu wecken für die Fenster-
wunder der Notre-Dame von Chartres und
darüber hinaus vielleicht auch für die Glasmalerei,
für die alte und moderne, überhaupt. Sie ist für
den Laien leider das Stiefkind neben den Schwester-
künsten der Architektur und der Bildhauerei. Mit
Unrecht: denn die Glasmalerei hat ehemals und
auch in unserer Zeit Werke hervorgebracht, die
würdig neben den bedeutendsten Schöpfungen auf
anderen Gebieten der dekorativen Kunst genannt
werden dürfen.

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