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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 12.1914

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Heft 6
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Das neue Programm: Vorwort der Redaktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.4753#0354

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M

Malt im Blickpunkt mit kleinen Pinseln, kurze,
heftig empfundene Linien, die alle sitzen müssen!
Malt hier sehr nervös; aber je weiter ihr euch dem
Bildrand nähert, desto breiter und unbestimmter
könnt ihr werden.

Früher hiess es immer: es gibt keine gerade
Linie in der Natur, die freie Natur ist unmathe-
matisch. Man liebte die gerade Linie nicht und
noch Whistler löste sie in viele kleine Teile auf.
Seit den Tagen Ruisdaels ist die gerade Linie in
der Landschaftsmalerei verpönt und die Künstler
haben immer vermieden, neue Gebäude, neue Kir-
chen und Schlösser auf ihren Bildern anzubringen.
Sie zogen die pittoresken Dinge vor, denn diese
waren unregelmässig und vielgestaltig: baufällige
Häuser, Ruinen und möglichst viel Laubbäume.

Wir Heutigen, Zeitgenossen des Ingenieurs,
empfinden die Schönheit der geraden Linien, der
geometrischen Formen. Nebenbei sei bemerkt, dass
auch die moderne Bewegung des Kubismus grosse
Sympathie für geometrische Formen an den Tag
legt, ja dass sie bei ihr eine noch tiefere Bedeutung
haben als bei uns.

Unsere gerade Linie — hauptsächlich in der
Graphik angewandt — ist nicht zu verwechseln
mit den Linien, welche die Maurermeister auf ihren
Plänen mit der Reissschiene ziehen. Glaubt nicht,
dass eine gerade Linie kalt und starr sei! Ihr müsst
sie nur sehr erregt zeichnen und ihren Verlauf gut
beachten. Sie sei bald dünn, bald dicker und von
leisem, nervösem Erzittern.

Sind nicht unsre Grossstadtlandschaften alle
Schlachten von Mathematik! Was für Dreiecke,
Vierecke, Vielecke und Kreise stürmen auf den
Strassen auf uns ein. Lineale sausen nach allen
Seiten. Viel Spitzes sticht uns. Selbst die herum-
trabenden Menschen und Viecher scheinen geo-
metrische Konstruktionen zu sein.

Nehmt einen breiten Bleistift und ziehet heftig
auf dem Papier gerade Linien und dieses Gewirr
mit einiger Kunst angeordnet wird viel lebendiger
sein als die prätentiösen Pinseleien unserer Pro-
fessoren.

Über die Farbe ist nicht viel zu sagen. Nehmt
alle Farben der Palette — aber wenn ihr Berlin
malt, so verwendet nur Weiss und Schwarz, nur
wenig Ultramarin und Ocker, aber viel Umbra.
Kümmert euch nicht um „kalte" oder „warme"
Töne, um „Komplementärfarben" und ähnlichen
Humbug — ihr seid keine Divisionisten — aber
strömt euch aus, frei, ungehemmt und sorglos.

Denn darauf kommt es an, dass morgen Hunderte
von jungen Malern voller Enthusiasmus sich auf
dieses neue Gebiet stürzen. Ich habe hier nur
einige Hinweise und Andeutungen gegeben. Man
könnte es ebensogut auch anders machen, vielleicht
besser und überzeugender. Aber die Grossstadt
muss gemalt werden!

Es ist schon in den Manifesten der Futuristen
— nicht etwa in ihren törichten Machwerken — ge-
sagt worden, wo die Probleme liegen und Robert
Delaunay hat vor drei Jahren mit seiner grossartigen
Konzeption des „Tour EifFel" unsere Bewegung in-
auguriert. Auch ich habe in diesem Jahre in einigen
malerischen Versuchen und gelungeneren Zeich-
nungen praktisch das getan, wofür ich hier theo-
retisch eintrete. Und alle jüngeren Talente sollten
sogleich an die Arbeit gehen und alle unsere
Ausstellungen mit Grossstadtschilderungen über-
schwemmen.

Leider verwirrt heute allerlei Atavistisches die
Köpfe. Das Stammeln primitiver Völker beschäf-
tigt auch einen Teil der deutschen Maler-Jugend
und nichts scheint wichtiger zu sein als Buschmann-
malerei und Aztekenplastik. Auch das wichtigtuende
Gerede steriler Franzosen über „absolute Ma-
lerei", über „das Bild" u. a. findet bei uns lauten
Widerhall. Aber seien wir ehrlich! Gestehen wir
uns nur ein, dass wir keine Neger oder Christen
des frühen Mittelalters sind! Dass wir Bewohner
von Berlin sind, anno 1013, in Cafehäusern sitzen
und diskutieren, viel lesen, sehr viel vom Verlauf
der Kunstgeschichte wissen und: dass wir alle vom
Impressionismus herkamen! Wozu die Manieren
und Anschauungen vergangener Zeiten nachahmen,
das Unvermögen als das Richtige proklamieren?!
Sind diese rohen, mesquinen Figuren, die wir jetzt
in allen Ausstellungen sehen, ein Ausdruck unserer
komplizierten Seele?!

Malen wir das Naheliegende, unsere Stadt-
Welt! die tumultuarischen Strassen, die Eleganz
eiserner Hängebrücken, die Gasometer, welche in
weissen Wolkengebirgen hängen, die brüllende
Koloristik der Autobusse und Schnellzugsloko-
motiven, die wogenden Telephondrähte (sind sie
nicht wie Gesang?), die Harlekinaden der Litfass-
Säulen, und dann die Nacht .... die Grossstadt-
Nacht ....

Würde uns nicht die Dramatik eines gut ge-
malten Fabrikschornsteins tiefer bewegen als alle
Borgo-Brände und Konstantinsschlachten RafFaels?

Ludwig Meidner.

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