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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 25.1927

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Heft 11
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Beenken, Hermann: Gustaf Britsch und seine Theorie der Bildenden Kunst
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IM V*5

wie sich mein Formengedächtnis unglaublich rasch differen-
zierte. Der Lehrer aber belobte nun nicht diese von mir
selbst stark empfundenen Fortschritte als eine wachsende An-
näherung an das Richtige, für die ich sie halten zu müssen
meinte, sondern er fuhr fort, zu theoretisieren. Es gäbe
Stufen, die seine Schüler nacheinander in logischer Folge-
richtigkeit zu durchschreiten hätten, und schon bald werde
es mir gelingen, Tiere etwa im Stile und in der Stilreinheit
früher griechischer Vasenbilder zu malen. Und Britsch zeigte
mir in der Tat erstaunliche Arbeiten älterer Schüler, die
dies bestätigen sollten. Schließlich werde ich auf diesem
Wege auch zu der Darstellungsstufe von Giottos Kunst ge-
langen, es sei möglich, nacheinander die Stadien der histo-
rischen Kunstentwicklung zu durchlaufen und durch eigenes
Gestalten von innen heraus zu verstehen. Dies schien phan-
tastisch und verlockend zugleich. Warum sollte ich die Probe
nicht machen?

Das Semester endete, und es kam der Krieg, die Be-
ziehung zu Britsch brach ab. Jahrelang hörte ich nichts von
dem Manne, und eines Tages hieß es, er sei gestorben.
Einer von den Vielen, die der Tod in jenen Jahren hinweg-
gerafft hat! Schon damals hatte ich ihn fast vergessen,
und das Schwinden jeder Erinnerung an seine Person und
an seine Theorie nahm seinen Fortgang, kaum daß alle paar
Jahre einmal irgendwo sein Name fiel, und dann ward auch
schon der Gesprächsstoff gewechselt.

Und mit jenem Mißtrauen, das mich dieser Persönlich-
keit gegenüber nie ganz verlassen hatte, habe ich vor kur-
zem auch ein erst jetzt erschienenes Buch geöffnet: Gustaf
Britsch, Theorie der bildenden Kunst, herausgegeben von
Egon Kornmann, Leiter des Gustaf Britsch-Institutes in Starn-
berg (München, F. Bruckmann, 1926). Die Lektüre der ersten
Seiten vermochte die Skepsis nicht zu verscheuchen: eine
Darstellung aus zweiter Hand, denn Britsch selbst hat keine
zusammenfassende Formulierung seiner Ideen hinterlassen
(der Anhang des Buches enthält nur einige Fragmente), per-
sönliche Einwirkung und mündliche Lehre sind ihm wesent-
licher gewesen. Die Terminologie der Erörterungen schien
nicht sehr glücklich, die Analysen waren nicht immer exakt,
reizten häufig zum Widerspruch, und das Lesen ging nicht
ohne Mühe von statten. Erfreulicherweise ist es kein dickes
Buch, und die Darlegungen gehen auf Allgemeinverständ-
lichkeit aus. Hinter der wenig befriedigenden äußeren Form
wird man aber bald eines Ideengehalts inne, dessen Trag-
weite eine außerordentliche ist. Gedanken treten zutage,
die neu und schroff scheinen und die doch wie mit einem
Rucke altgewohnte Vorstellungen umzustürzen vermögen.

Mir selber ging es so — es sei erlaubt, auch dies Per-
sönliche noch zu berichten —, daß ich jetzt erst begriff, wie
durchaus nicht fruchtlos jene Privatvorträge gewesen waren,
die ich vor mehr als zwölf Jahren hatte anhören müssen.
Denn wie eine Saat waren damals Gedanken in mich ge-
worfen, die erst Jahre hinterher aufkeimten und aus dem
Dunkel des Unterbewußtseins in das Licht des wissenschaft-
lichen Denkens hinaufwuchsen. Gedanken fand ich in dieser
Theorie wieder, die ich bisher für mein ureigenstes geistiges
Eigentum hatte halten müssen. Und so war, was ich für
geistige Zeugung gehalten hatte, mitunter nur Anamnesis ge-
wesen. Die Ideen von Britsch hatten gleichsam anonym in

mir gewirkt, und so habe ich wohl diesem Toten, diesem
vergessenen Lehrer noch eine Dankesschuld abzutragen, von
der ich nicht weiß, wie groß sie sein mag.

Will man die Theorie von Britsch allgemein charakteri-
sieren, so muß man zunächst sagen, daß sie auf den Ge-
dankengängen Conrad Fiedlers aufbaut. Unter dem Titel
„Bildende Kunst" verstehen wir geistige Leistungen, die die
Erlebnisse des Gesichtssinnes als solche zum Gegenstand
der Verarbeitung haben. Im Grunde wird der sichtbare
Gegenstand für das Bewußtsein überhaupt erst durch die
Tätigkeit, die wir „bildende Kunst" nennen, geschaffen.
Wie das theoretische Denken eine Auseinandersetzung mit
der Welt ihrer Begreifbarkeit nach ist, so ist bildende Kunst
es mit der Welt, insofern sie uns als sichtbare gegeben ist.
Während Fiedler aber sich im wesentlichen mit der Formu-
lierung dieser Erkenntnisse ganz im allgemeinen begnügt
hatte, geht Britsch der inneren Genesis unserer sichtbaren
Gegenstandswelt nach. Was ist der Beginn aller auch nur
denkbaren Auseinandersetzung mit Sichtbarkeit? Hier wird
das Problem der Kinderzeichnungen in der fruchtbarsten
Weise erörtert. Für die Beurteilung dieser ihrem Wesen
nach frühesten und zugleich vielleicht unmittelbarsten Pro-
dukte bildnerischer Tätigkeit werden überraschende Gesichts-
punkte eingeführt. Es sind Kriterien, die aus dem Wesen
dieser primitiven Darstellungsstufe selber entwickelt wer-
den, und ich glaube, daß der künftige Zeichenunterricht
unserer Schulen, der sich ja jetzt endlich auf einem guten
Wege zu entwickeln beginnt, an den hier erörterten Ge-
danken nicht wird vorbeigehen können.

Ein Beispiel für die neue Betrachtungsweise: Wenn ein
Kind einen Kopf zeichnet und es macht einen Kreis mit
zwei Punkten als Augen, einem senkrechten und einem wage-
rechten Strich als Nase und Mund darin, so ist damit nur
Kopf, aber nicht Vorderansicht im Gegensatze zu Seiten-
ansicht des Kopfes gemeint, und jede Beurteilung hat davon
auszugehen, daß der Gegenstand „Ansicht des Kopfes" für
das kindliche Bewußtsein überhaupt noch nicht existiert. Es
ist „Kopf" gemeint und dies Gemeinte ist durch den Kreis
abgesetzt gegen das, was nicht „Kopf" ist. In dieser Setzung
eines bestimmten sichtbaren Gegenstandes sind dann weiter,
da das Kind bereits primitive Richtungsunterscheidungen
zu treffen vermag, Nase und Mund gegeben. Es wäre aber
falsch, wenn man ihm die Verarbeitung nun schon eines so
komplizierten Richtungsverhaltes wie „Umriß des Kopfes"
zumuten würde, da eine solche einen viel entwickelteren
Vorstellungszusammenhang voraussetzt. Auf einer noch pri-
mitiveren Stufe etwa ist auch der Gegenstand Kopf noch
nicht als solcher „beurteilt" und unterschieden. Er ist etwa
mit dem Rumpfe noch eins, und die Arm- und Beinstriche
setzen unmittelbar an ein einziges, auch die Augenkreise
enthaltendes Rund an.

Aus dieser Einstellung ergeben sich konsequenterweise
ebenfalls Kriterien für die Beurteilung archaischer künstle-
rischer Tatbestände. Es ist sinnlos, zu sagen, die Figuren
ägyptischer Flachreliefs vereinigten in „unnatürlicher" Weise
die Vorderansicht der Brust mit den Seitenansichten von
Kopf und Beinen. Es ist deshalb sinnlos, weil auch in die-
sen relativ entwickelten Kunstwerken so etwas wie eine
„Ansicht" von Gegenständen immer noch nicht das Objekt

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