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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

DOI Heft:
Heft 13 (1. Aprilheft 1901)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: "Poetisch"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0013

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Crsles Aprilkekt 1901.

l)eft iz.

„poetisck".

Bei allen Künsten nennen wir eine gewisse Wirkung „poetisch".
Wer hat sie untcr dem Säulenstreben und Bogenranken eines gotischen
Doms noch nicht empfundcn? Und doch auch wieder in irgend cincr
Bauernhütte an der Küste oder auf der Alm. während er sie in irgcnd
einem Prachtbau vermitzte, den er trotz all seiner Zuthaten „nüchtern"
sand? Man verglciche ein Meisterwcrk Böcklins mit dem Meisterwerke
eines Liebermann oder auch mit dem Bild eines noch so talentvollen
Nachahmers eben von Böcklin — woher kommt's, datz uns das eine
nicht nur persönlich sondern „poetisch" erscheint und das andere nicht?
Uud woher, dah man das Vorspiel zum Parsifal so und so oft eine
„Dichtung in Tönen" genannt hat, gleich andern „poetischen" Musik-
werken, während vor vielen bedeutenden Schöpfungen der Tonkunst die
besondere „poetische" Stimmung ausbleibt? Ueber das Reich der Künste
hinaus geht diese Verschiedenheit. Es gibt Eindrücke der Naturschönheit,
die kein Mensch poetisch nennen würde und wieder andere, die ganz
sicher jeder Empfängliche so nennt. Anderseits erstreckt sie sich selbstver-
ständlich in die Dichtkunst selber hinein. Nicht nur Romane, auch
Theaterstücke und sogar Gcdichte können Werte haben, die sie schätzen
lassen, und doch empfinden wir sie nicht eigentlich als „poetisch". Was
ist es Lenn nun, dieses „Poetische"?

Wollen wir unsere Gedanken darüber klären, so müssen wir es
zunächst einmal in möglichst reiner und verdichteter Form suchen, und
die finden wir, das allerdings ist ja gewitz, dann doch innerhalb des
Reiches der Dichtung, und zwar in der elementaren Lyrik. Das „lyrische
Krystall", dieser edelste Edelstein, der in manchem Jahre nirgends ersteht
und der allein der tiefen Andacht sein inncres Licht auflcuchten lätzt,
der lyrische Krystall zeigt jene Stimmung des Poetischen so geläutert,
wie nichts anderes auf der Welt. Denken wir an Goethes „An den
Mond", an Kellers „Abendlied", an Mörikes „Um Mitternacht". Wir
wollen das dritte dieser Gedichte hersetzen, um uns kurz daran an-

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