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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

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Heft 13 (1. Aprilheft 1901)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0050

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der Natur, die Zeit vor der Welt ein. Diese Zeit vor der Welt liefert gleich-
sam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt, wie der Naturstand ein
sonderbares Bild des ewigen Reichs ist. Die Welt des Märchens ist die der Welt
der Wahrheit durchaus entgegengesetzte und eben darum ihr so durchaus ähnlich,
wie das Chaos der vollendeten Schöpfung ähnlich ist. — Jn der künftigen
Welt ist alles wie in der ehemaligen und doch durchaus anders; die
künftige Welt ist das vernünftige Chaos, das Chaos, das sich selbst durchdrang
das in sich und außer sich ist. — Das ächte Märchen muß zugleich prophctische
Darstellung, idealische Darstellung, absolut nothwendige Darstellung sepn. Der
ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft. —

Kunäsckau.

LrterLtur.

* Novalis.

Vor hundert Jahren, am 25. März
I80;,starb, noch nicht neunundzwanzig
Jahre alt, Friedrich von Hardenberg,
der sich als Dichter Novalis nannte-
Jch weiß nicht, ob es recht ist, zu den
hundertjährigen Geburtstagen auch
noch die hundertjährigen Todestage
zu „feiern", zumal die Feier doch wesent-
lich nur in Berschwendung von Tinte
und Druckerschwärze zu bestehcn pflegt,
aber des Novalis zu gedenken ist wohl
jetzt der richtige Zeitpunkt, da wir, nach
der Ansicht mancher Leute, im Zeit-
alter der Ncuromantik stehen. That-
sache ist, daß Friedrich von Harden-
berg im letzten Jahrzehnt wieder mehr
bekannt geworden ist, nachdem er sür
die große Masse des gebildeten Pu-
blikums sehr lange verschollen war —
nur die „Stillen im Lande" haben ihn
als geistlichen Dichter immer geschätzt.
Es war der Symbolismus, der die
Aufmerksamkeit auf den größten Dichter
der Frühromantik zurücklenkte, man
wollte Aehnliches, wie er einmal ge-
leistet, nämlich von der Wirklichkeit
los, in die Abgründe des Gefühls
hinab, man wollte für tiefstes Leben
allumfassende Symbole schaffen, —
und da holte man sich, wie das in
Dcutschland üblich ist, den „Eidcs-
helfer" aus der Vergangenheit. Aber
wer die blaue Blume findet, wird da-
zu geboren, und ich sürchte, daß es
das 611 äe siocle-Geschlccht doch nicht
llunstwart

war. Jm ganzen erscheint mir die
Neuromantik als ein Mummenschanz,
den man nicht ohne Geschick, aber doch
nicht aus tiefstem Bedürfnis der Natur
heraus ins Werk gesetzt hat — man
kann nicht Neuromantiker und wirk-
lich moderner Mensch zugleich sein;
man muß selbst glauben, wenn man
dem Publikum „mystisch" kommt; die
Unfähigkeit zu denken und die Fähig-
keit zu posieren, machen den wahren
Romantiker nicht. Von Novalis ist
bekannt, daß er sich nach dem Tode
seiner Braut geistig selbst morden
wollte, unsere Modernen aber hatten
viel zu viel mit dcr Ausstattung ihrer
Gedichtbände zu thun, als daß sie der-
gleichen Einfülle je hätten haben können.
Alles in allem war ihre Neuromantik
eine Mode: Wie man im Baustil
Gotik, Rcnaissance, Barock, Rokoko,
Empire in wenigen Jahrzehnten künst-
lich wiederholt hatte, so repetierte
man literarisch Sturm und Drang,
Klassik, Romantik — und heute ftehen
wir, wenn wir die Tendenzstücke der
Max Dreyer, Otto Ernst, Georg Engel
und wie sie sonst heißen (ich urteil e
hier nicht), schon wieder beim jungen
Deutschland von ;82v, zu dem auch
der Goethebund vortrefflich paßt.
Glücklicherweisc ist unsere Literatur
noch etwas anders als diese Repetition.

Um auf Novalis zurückzukommen:
er ist in der That eine Erjcheinung,
dic noch heute Aufmerksamkeit verdicnt.

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