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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1901)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Vom Vorlesen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0191

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Vom Vorlesen.

Wenn Goethes Wort von der Meisterschaft in der Beschränkung
richlig ist, so scheint die Kunst des Vorlesens einen größeren Meister zu er-
fordern als der bühnliche Vortrag. Denn aüe die illusionierenden Hilfs-
mittel der Dekoration, der Maske, Geste und Geberde, des Sprechens aus
vielerlei Munde, des erläuternden stummen Spiels sind ihm genommeu.
Er mutz uicht nur über eine lebendigere Phantasie verfügen, die ihm
alle (Lharaktere, alle Gegenstände, alle Tiefen und Schönheiten
in den Bildern und Gedanken der Dichtung vor die eigenen Augen
zaubert, er mutz obendrein die Kraft und die Weisheit haben, einzig
durch die Beseelung des Tones, höchstens noch durch den Ausdruck des
Gesichts dies ganze Phantasiegebilde dem Hörer mitzuteilen, ihn durch
diese schmalen Mittel in den Bann zu zwingen, darein ihn sonst nur
die Bühne mit Aufwand ihres vielgestaltigen Apparats verstrickcn kann.
Jch denke hier nicht nur an den Vorleser dramatischer Werke, bei dem
sich die Kluft allerdings am deutlichsten aufthut; ich habe auch epische
und lyrische Dichtungen im Sinne, die von jeher zu dem Programm-
bestand der Leseabende gehörten. Es war der Stolz der alten Rhap-
soden und ist der Stolz mancher neuen, datz man auch ihren Vortrag
epischer und lyrischer Gedichte dramatisch bewegl nannte. Und sie
suchten dieses Lob mit eifriger Seele, indem sie die Erzählungen und
Liedstimmungen durch fleitziges Gestikulieren, durch Kopfverdrehungen,
durch theatralisches Charakrerisieren der sprechenden Personen förmlich
auf die Bühne hoben. Sie traten damit in einen Wettbewerb mit der
Schauspielerei und wollten es ihr gleichthun, wenn nicht so, dann so.
Kein Mittel war ihnen zu grob.

Vielleicht aber ist das Vorlesen eine selbständige Kunst und
deshalb mit der bühnlichen gar nicht zu vergleichen? Sie galt nur
fälschlich bisher als eine verkrüppelte Abart der andern, weil schlechte
Schauspieler sich als Rezitatoren aufthaten? Und aus diesen schlechten

Aunstwart t- Jnniheft 190t

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