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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

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Heft 22 (2. Augustheft 1901)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0443

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zipieÜ nicht, denn ich halte den ein-
stimmigen Gemeindegesang keineswegs
für eine Barbarei, zumal da das har-
monische Bedürfnis des Abendländers
durch die Orgelbegleitung befriedigt
wird. „Barbarisch" kann der einstim-
mige Gesang doch wohl nur dann
klingen,wenn die Singfertigkeit,Stimm-
bildung und daS musikalische Gehör
der Gemeindeglieder sehr mangelhaft
sind; und wo dieS der Fall ist, wie
jammervoll würdc da erst ein vier-
stimmiger Gemeindegesang ausfallenl
Jch metne auch, wie die Kunstwart-
leitung, daß jeder Kirchgänger ein Recht
auf das Mitsingen der Melodie hat,
und daß es ein Unterschied ist, ob man
eine nichtssagende Mittelstimme singt
oder eine gehaltvolle Melodie. Den
Chorgesang.dem Lhore, d. h. denjenigen
Gemeindegliedern, welche musikalisch
begabt sind; der Gemeinde aber den
einstimmigen Gesang!

Jch bin aber auch aus praktischen
Gründen ein Gegner des Vorschlags;
ich halte ihn unter den gegenwärtigen
Verhältnissen, d. h. so lange der Ge-
sangunterricht so sehr im Argen liegt
und so unvernünftig betrieben wird,
wie bisher (es ist schwer, kein Klage-
lied Jeremiä hierüber anzustimmen),
für gänzlich undurchführbar. Es wird
den Einsender interessieren zu hören,
daß bei uns in Württemberg der Ver-
such, den er befürwortet, schon etnmal
gemacht worden ist. Jn den zwanziger
Jahren des Jahrhunderts wurde
von der Württ. evang. Oberkirchen-
behörde die Einführung des vierstim-
migen Gemeindegesangs sehr ernstlich
ins Auge gefaßt- Den Geistlichen wurde
durch ein Generalsynodalrcskript von
I829 empfohlen, auf die Errichtung
von Gesangchören und von Gesang-
schulen für Erwachsene Bedacht zu
nehmen. Der Leitung derselben sich
zu unterziehen wurden Geistliche, Schul-
lehrer und Organisten aufgefordert und
die beiden letzteren für verpflichtet er-
klärt. Daß man die Sache gar nicht

ungeschickt angriff, beweist die vor mir
liegende Ausgabe des württ. Gesang-
buchs von 18ZS, welche einen Anhang
von 1-19 Choralmelodieen itt vierstim-
migem Satz für gemischte Stimmen
enthält; die Choräle sind zur Erleich-
terung des Gesanges nur in den ein-
fachsten Tonarten, alle vier Stimmen
im Diskantschlüssel (auf zwei Stimmen)
notiert. Noch die Vorrede zum großen
Kirchenchoralbuch von 18-1-1 rechnet mit
der Möglichkeit, daß der Singchor
„nach Gunst der Umstände sich unter
der Gemeinde selbst ausdehnen könne".
Die ganze Sache ist im Sande ver-
laufen. Der Bearbeiter der neuen Aus-
gabe unsres Kirchenchoralbuchs vom
Jahre ;8rs, Professor vr. Faißt, hat
sich mit voller Entschiedenheit auf den
Standpunkt der Einstimmigkeit des
Gemeindegesangs gestellt. Und wer,
wie der Schreiber dieser Zeilen, aus
Erfahrung weiß, mit welchen Schwie-
rigkeiten man auch nur bei der Leitung
eines Kirchenchores zu kämpfen hat
der wird ihm beistimmen müssen. Gott
bewahre uns vor der Bierstimmigkeit,
die zustande käme bei dem planlosen
Zusammensingen einer heute so und
morgen so zusammengesetzten, um nicht
zu sagen zusammengewürfelten Ge-
meinde! Das würdc ein sehr unerbau-
liches Ensemble geben.

Das Beispiel der Schweiz macht
mich nicht irre. Hat doch auf dcm
15. deutsch-evangelischen Kirchenvercins-
tag in Straßburg ein Schweizer, Pfarrer
Lüw-Langenbrück, erklärt, daß ihrvier-
stimmiger Gemeindegesang ,gar nicht
so schön sei, wie man es vielfach
rühme."

Ein angemessener Wechsel zwischen
kräftigem, markigen, von der Orgel
angemessen begleiteten einstimmigen
Gemeindegesang und der kunstvollen
Mehrstimmigkeit eines wohlgeschulten
Chores — damit dürfte sowohl den
Forderungen der Kunst entsprochen als
der Erbauung der Gemeinde am besten
gedient sein.

2. Augustheft 1901
 
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