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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

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Heft 23 (1. Septemberheft 1901)
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Bartels, Adolf: Wilhelm Raabe: zu seinem siebzigsten Geburtstage
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0457

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wir also erst die „Modernen", damit wir wissen, was sich zieme! Hören
wir ihren Literaturhistoriker Richard M.Meyer! Meyer, hat von Raabe ein-
mal gelesen, „er bestimme bei jedem Buch den Umfang jedes Kapitels, ehe
er zu schreiben anfängt, bis auf die Seite genau voraus", und meint
dann: „Das wäre nicht unmüglich, und es würde recht dcutlich illustrieren,
wie auch bei diesem Epigonen (?) äußere Gleichmäßigkeit innere Form-
losigkeit verdeckt." Sehr schön! Es wird dann die „Manier" Raabes charak-
terisiert: die Bepackung seiner Personen mit Reflexion, Lebensphilosophie
und Moral, seine Breite, die alte Uebung der romantischen Zuthaten,
die der Dichter beibehalten hat, die Vorliebe für die „Narren der Welt"
— und selbst die Namengebung Raabes entgeht einer gründlichen Unter-
suchung nicht. „Raabe besitzt allerdings" — nun kommt die Haupt-
stelle — „was den wenigsten seiner Zeitgenossen eigen ist: eine eigene,
aus der eigenen Natur und der eigenen Erfahrung hervorgewachsene
Weltanschauung (er, der Epigone?). Daß er sie besitzt, hebt ihn trotz
aller Mängel seiner Kunst hoch über die breite Heerschar der Epi-
gonen. (Verkleisterung des Widerspruchs.) Daß sie selbst (die Welt-
anschauung) starke Spuren der Zeit trägt, aus der sie erwuchs, bleibt
freilich bestehen. Zu der Höhe jener über alles Vergänglichc wie über
ein Gleichnis herabblickenden ewigen Weltanschauungen, die sich Spinoza
oder Goethe, Lessing oder Schiller eroberten, ist der Sohn einer geistig
ärmeren Zeit nicht emporgedrungen; und darum fürchten wir, wird auch
das Beste, was er besitzt, veralten, wenn das künstlerische (!) Glaubens-
bekenntnis eines Eichendorff (!), eines Fritz Reuter (!) in unvergäng-
licher Frische sortstrahlen. Denn seiner Weltanschauung fehlt die tapfere
Freudigkeit im Genießen oder im Entsagen, im Träumen oder im Leben;
es ist doch eben nur ein Kompromiß geschlossen zwischen Pessimismus
und Lebensfreude, und Raabes Humor ist der Ausdruck dieses Kompro-
misses." Macht das nun unsre Begeisterung tot? Doch wohl nicht!
Deun wir durchschauen die Taschenspielerei, das Durcheinanderrühren der
Begriffe „ewige Weltanschauung" und „künstlerisches Glaubensbekenntnis",
wir begnügen uns damit, über die Zusammenstellung von Eichendorff und
Raabe den Kopf zu schütteln und nochmals den Kopf zn schütteln, weun
Meper von einem künstlerischen Glaubensbekcnntnis bei Neuter redet.
Doch wir müssen weiter, wir müssen dnrch: „So kommt es, was
auch Raabes liebevollster Kritiker hervorhebt, daß die Thatkraft des
modernen Menschen bei ihm ganz verkümmert. Er hat keinen Sinu für
neue Jdeale; nur das Alte, die malerische Ruine, das verlassene Dorf
sind für ihn poetisch. Hierin ist er, der Freidenker, mehr als der kon-
servative Niehl, ein radikaler Reaktionär. Die modernen Triumphe der
Technik enthalten für ihn nichts Großes; sie sind ihm lediglich Siege
des Teusels, der die Nosen bricht; die Eisenbahn oder die Fabrik be-
trachtet er mit romantischer Jronic. Und nicht viel anders stellt er sich
zu dem Aufschwung des Reichs. Als alles darniederlag, da schloß er
sich, wie Heine (der fehlte hier!) es von sich selbst sagt, als des deutschen
Volkes guter Narr mit ihm ins Gefängnis ein, tröstete es, verwies es
auf die unverlierbaren Güter, mahnte es, sich treu zu bleiben. Als
dann aber die Ketten sprangen und ein unerhörtcr Sieg deutscher That-
kraft die Welt überraschte, da war Raabe fast so unzufrieden, wie fran-
zösische Jdeologen, Michelet, Renan, die es der Nation von Trüumern
Aunstwart
 
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