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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1901)
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Weitbrecht, Carl: Der Fluch des ästhetischen Formalismus: (in Sachen "Aesthetik und Kunstwerk")
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0544

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sich phantasiemäßig in Anschauung umsetzen und dann die äußere Form^
indem die innere Anschauung des Künstlers durch die jeweiligen Aus-
drucksmittel einer bestimmten Kunst der Anschauung des Genießenden
zugänglich gemacht wird. Und dieser Genießende wiederum kommt zum
wirklichen und vollen Genuß nur, indem auch er sein Persönliches, also
auch sein Ethisches und Jntellektuelles in die Anschauung hineinlegt oder
aus ihr „herausschaufelt" — anschauungs- und gefühlsmäßig, nicht
moralisierend oder verständig, wenn ihm auch später, außer oder nach
dem ästhetischen Vorgang, die ethischen und intellektuellen Werte zum
moralischen oder begrifflichen Bewußtsein kominen mvgen. Aber nicht
nur dem Kunstwerk, sondern, obwohl mit einigen Modisikationen, auch
der Natur gegenüber vcrhält sich der ästhetisch Genießende so, wenn er
auch ohne Vcrmittlung eines Dichters „den Sturm zu Leidenschaften
wüten, das Abendrot im ernsten Sinne glühen" läßt, wenn er Linien,
Maße und Proportionen nicht nur verstandesmäßig auffaßt, sondern
durch Streckung und Weitung seines Persönlichen zu den ästhetischen
Werten dcs Erhabenen gelangt — und was dergleichen ist. Das hcißt
also: die ethischen und intellektuellen Werte beschränken sich nicht einmal
aufs Kunstwerk, sondern sie treten auch im Vorgang des ästhetischen
Naturgenusses auf, sind überall ein wesentlicher Bestandteil der ästhetischen
Werte und Wirkungen, soweit diese nicht ganz primitiver Art, etwa nur
auf die Gefühlstöne der einfachen Sinnesempfindung beschränkt sind.

Achnliches ließe sich auch noch im Blick auf andere ästhetische
Wertungsprinzipien zeigen, z. B. am Prinzip des kleinsten Kraftmaßes
oder an dem von Dauer und Wechsel der Eindrücke. Das Bisherige
mag aber genügen, weil an den Prinzipien der Assoziation und der per-
sönlichen Einfühlung die Sache am deutlichsten zutagc tritt. Diese Sache
aber ist in all dem die: kcin einigermaßen bedeutsamer üsthetischer Wert
ist bloßer ästhetischer Formwert, das Aesthetische erschöpft sich nicht in
Formwertcn, sondern enthält ethische und intellektuelle Werte in leben-
diger Einheit in sich.* Auch die ästhetische Kritik kann, für Zustimmung
oder Ablchnung, ethischer und intellektueller Maßstäbe gar nicht entraten^
da diese nicht neben dem ästhetischen Maßstab liegen, sondern in ihm
enthaltcn sind. Nur für den ästhetischen Formalismus fällt das alles
auseinander, darum ist er auch ewig dazu verdammt, am Aeuhern des
Kunstwcrks und jeder ästhetischen Wirkung hängen zu bleiben, sich in
rein technischen Fragen abzuzappeln und ihnen eine ungebührlich hohe
Bedeutung zuzuschreiben; darum hat er das Vorrecht, in den Fragen
über „Kunst und Moral" immer neue Konfusion zu stiften und gelegent-
lich Privilegien selbst für den baren Unsinn und die ausbrechende Ver-
rücktheit in der Kunst zu erteilen.

Und mein Ergebnis gcgenüber dem Ergebnis Egon Distls ist das:
cs kann sich nicht darum handeln, der Aesthetik ihr Wissenschastsgcbict
zu verengen, indem man ihr die Zuständigkeit für ethische und intellek-
tuelle Werte abspricht und sie auf die ästhetischen Formwerte beschränkt,
für das Kunstwerk aber, das unzweifelhaft ethische und intellektuelle
Werte enthält, eine neue Wissenschaft neben der Acsthetik sordert. Viel-
mehr darum handelt sich's, die Aesthetik von dem Fluch des Formalis-

* Vgl. memen Aussatz »Ethisch und Aesthetisch"', i- und 2. Februarheft
des Kunstwarts, isytz.

2. Sextemberheft 1901
 
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