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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 23
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Kretzer, Max: Objektivität und Subjektivität in der Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0360

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um des „nackten" Menschen willen geschaffen worden
ist, unbekümmert um das, was darum und daran hing;
und doch ist diese Lharakterstudie je größer geworden,
se mehr der Dichter sich in den (Lharakter
hinein zu denken vermochte; je besser es ihm gelang,
die vorzüge und Mängel der Gattung bei Schaffung
dieses „Lharakters" einheitlich zu verwerten, und nicht
zuletzt: se vortrefflicher er sich selbst erkannte,
um durch Studien an sich selbst andere Menschen
lebenswahr zu gestalten. In diesem Sinne bestünde
dann die Obsektivität in der Dichtung darin: zu ver-
suchen, sich selbst zu ergründen, um die Tugenden
und Laster Anderer zu verstehen und menschlich er-
klärlich zu finden. Das wäre aber in wirklichkeit
der Ausfluß reinster Subjektivität. Denn was heißt:
„sich hinein denken" anders als: grübeln, das eigene
Ich mit dem fremden verflechten, mit einem worte:
subjektiv denken und erfassen. Die Subjekti-
vität bildet dann die s)ersönlichkeit, und je stärker
und umfassender diese, je größer und mächtiger der
Dichter, je mehr wird er in wahrheit „über den
Dingen stehen".

Ziehen wir einige Beispiele heran. Bekanntlich
ist es nicht dasselbe, wenn Zwei dasselbe thun. <Ls
können auch Drei sein: Goethe, Lienau, Marlowe, von
denen jeder einen Faust gedichtet hat. Nun ist
Goethes Faust nicht vor allem deswegen die gewaltigere
der drei Dichtungen, weil seinem Oerfasser die größeren
poetischen und künstlerischen Niittel zur Oerfügnng
standen, sondern weil die Ausfassung Lausts die
weit richtigere ist, weil seine Gestaltung mächtiger
anzieht, weil sein Denken und Fühlen hervorgegangen
ist aus dem Denken und Fühlen Goethes, der großen
jDersönlichkeit, die eine andere große geschaffen hat.
Goethe ist im Faust aufgegangen; gleich diesem zu
derselben Lrkenntnis gekommen, hätte er in derselben
Lage so handeln müssen, wäre die Rraft seines
Geistes der menschlichen Schwäche unterlegen. Ge-
schöpft aus dem Borne seiner ungeheuren Seelenkennt-
nis, erstanden aus den Schwächen und vorzügen
seines eigenen Zchs ist Goethes Faust die unver-
gängliche poetische Ltudie des „Nlenschen an und für
sich", die ewig frisch bleiben wird, weil Attllionen
sich in ihr erkennen.

Faust ist ein Ltück Goethe, wie Ljamlet ein
Stück Shakespeare ist, und Don (Huijotes Tragik
verwandt ist mit den überstandenen Leiden und der
weltverachtung des Tervantes. Gder nehmen wir
einen von den Neuen, der einer der „subjektivsten"
ist, den man sich denken kann: Dostojewski. Ts ist
ganz unmöglich, sich die Leiden Raskolnikows getrennt
von den Leiden seines Lchöpfers zu denken. bsier
geht für Denjenigen, der das Ceben des Dichters
kennt, das „Äch-bfineindenken" fo weit, daß er sich
keinen Augenblick wundern würde, wenn statt des
Namens Naskolnikow plötzlich Dostojewski zu lesen
wäre. Naskolnikow hat den Mord thatsächlich be-
gangen, Dostojewski hätte ihn unter ähnlichen
voraussetzunaen und Umständen begehen können;
ja nicht nur er allein — jeder denkende und fühlende
Leser hätte ihn begehen können. Nnd das ist ge-
rade das unmittelbar wahre und Überzeugende, das
zu uns spricht. Naskolnikow ist vor dem Gesetz ein
!Nörder, aber der Dichter macht es den Leser ver-

gessen, indem er das allmähliche Reimen zur That
menschlich erklärlich macht. Und das geschieht
nicht durch das vorführen des rein Äußerlichen,
durch die genaue Schilderung des Gesehenen,
sondern durch die Rraft der L mp fi n d u n g s d a r-
stellung, durch das aus dem tiefsten Znnern des
Dichters hervorquellende Ntttgefühl, das die poetische
Gerechtigkeit als erhabenste weit über die der
Menschen stellt, und welches die That eines Nlenschen
als nebensächlich auffaßt gegenüber der Veran-
lassung, die ihn dazu getrieben hat.

Dichterischer Nealismus wäre also in erster Linie
die Rraft, die Seelenvorgänge des. Menschen mit
den ihn umgebenden äußeren in Tinklang zu bringen
und als wahrscheinlich hinzustellen. Ze größer
diese Rraft, je glaubwürdiger werden die Dor-
gänge erscheinen. Zn diesem Sinne wareir alle
großen Dichter Realisten und einige von ihnen haben
es sogar zv einem ganz gesunden Naturalismus
gebracht.

Ts ist also gänzlich falsch, neuerdings den
„Nealismus" immer als etwas hinzustellen, was
vordem nie vorhanden gewesen sei und was man
der fortschreitenden Zeit zu verdanken habe: als eine
neuerfundene Nlethode, den Nwnschen und das, was
ihn umgiebt, wahr zu gestalten. Das wäre dasselbe,
als wollte man Nlenschen b eobachter mit N'lenschen-
kenner verwechseln. Die Beobachtung ist immer
etwas Äußerliches, die Renntms etwas Vertieftes.
Und auf den Dichter übertragen, ist Beides von
weittragender Bedeutnng. Lo ist ^hakespeare z. B.
ein großer Nlenschenkenner, Zola ein großer Be-
obachter der Nlenschen. Nlan nehme den Zolaschen
Nomanen die ganze Schilderung, das sogenannte
milieu, und man wird sehen, was von den Nlenschen
übrig bleibt; man lasse die Shakespeareschen Dramen
aber ohne jeglichen Rulisseneffekt in Lzene gehen
und man wird erkennen, was für einen tiefen Tin-
druck der „Nlensch an und für sich" auszuüben ver-
mag. Za, die wirkung wird eine um so größere
sein, je mehr Bedeutung das U)ort erhält und je
weniger das Auge durch rein nebensächliche Dinge
abgelenkt wird, die eigentlich mit der Lharakterent-
wickelung und der Darstellung unserer eigenen Dor-
züge und Schwächen, Tugenden und Laster nichts
gemein haben. Ls ist charakteristisch in dieser Be-
ziehung, daß man die Aüsstattungsstücke, die man
neuerdings aus den TDerken unserer größten Dichter
gemächt hat, als „realistisch wohlgelungen" bezeichnet.
Der große widerspruch besteht darin: daß man
völlig vergißt, wie wenig die Sprache des Dichters
mit dieser „gewöhnlichen" Nmgebung gemein hat.

Aus alledem ergiebt sich, daß es^iicht die Sprache
des N'lenschen ist, die uns wahrhaft zu fesseln im
Stande ist, sondern der G e i st des Dichters, der
aus dem Nlenschen zu uns spricht. <Ls ist das
Runsterzeugnis, das uns gefangen nimmt. Ljätte
der Dichter nicht mehr zu sagen, als was wir tag-
täglich um uns vernehmen, so wäre er eben kein
Dichter und wir würden uns nicht erhoben fühlen.

Nmn hat es an Zbsen so außerorbentlich gelobt,
daß er in seinen Dramen uiemals den Nlonolog an-
wende, sondern alle Tharakteristik aus dem Zwiege-
spräch hervorgehen lasse. wenn die Bewunderer des

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