Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

DOI Heft:
Heft 23
DOI Artikel:
Kretzer, Max: Objektivität und Subjektivität in der Dichtung
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0363

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Aber ebenso bald, wie in die mittelhochdeutsche
j)oesie, ist auch in die der Neuzeit der Formalisinus
eingedrungen. Znhaltlich bringt die Runst nichts we-
sentlich Neues, an Gedanken und Lmpstndungen be-
reichert sie sich nicht, und umsomehr sucht sie den
Schwerpunkt in den sprachlichen Ausdruck zu verlegen.
Man will die großen vorgänger hierin übertrumpfen,
die Form hört in ihrer verkünstelung aus, den In-
halt charakteristisch zu verkörpern, und wird auf ihre
rein sinnlichen Wirkungen hin geschätzt und ausge-
bildet. Ls kommt eine Atelierkunst aus, welche mit
unendlicher äußerer Feinheit kleine ^chmuckstücke aus-
arbeitet, mit stillem, unablässigem Fleiß an der Sprache
meißelt und dann scheinbar etwas Ähnliches hervor-
bringt, was der wahrhaft große Formbeherrscher mit
kühner Nnmittelbarkeit geschaffen hat. In diesem
Verhältnis steht schon kseine zu Goethe. So weich sich
seine Lieder unserm Ghre einschmeicheln, so sühlt man
doch bald die zierliche Roketterie heraus, vor allem,
wenn man erst eingesehen hat, wie dürftig im Grunde
das innere Leben ist; nicht die Tiese der Tmpfind-
ungen und Leidenschasten, die Araft der Gedanken
selber, sondern allein der sinnliche Nlang der 5prache
übt eigentümliche Wirkungen aus. Oder man wirst
sich, wie jAaten und Rückert es thun, auf das Feld
der Überraschungen. s)laten legt mit seiner Forderung
der unbedingten Neinheit des Neimes diesem ein Ge-
wicht bei, das ihm zuletzt doch nicht zukommt, saßt
ihn mehr in seinem äußeren als in seinem inneren
Wert aus, sieht ihn mehr mit den Augen an, als daß
er ihn mit dem Ghre hört, und vergißt, daß der Neim
sür sich allein „die Nlusik nicht ausmacht" und ost
geradezu eine Nülderung verlangt. wenn kseine in
dem Lied „Rlinge, kleines Frühlingslied" die i- und
ü-Laute mischt, so hat er damit gerade eine besonders
feine Rlangsarbe erzielt. N7an glaubt, eine besondere
That ausgeübt zu haben, wenn man fremdländische
Formen einführt, alle griechischen und orientalischen
Strophen und versmaße ins Land einschleppt. Die
Sprache an und sür sich mag durch Nückerts tolle
Seiltänzerkünststückcheu viel gewinuen, aber die Nunst
verliert umsomehr. Steckt aber in solchem Formalis-
mus noch eine gewisse Großartigkeit, so verschwindet
doch auch diese bald; die Geibel und bserwegh stehen
schon wieder eine Stuse tiefer. Lsier ist eine glatte
wohlredenheit, die einen gleichmäßigen Schein über
jeden Vers wirft und alles in derselben reinen, klaren,
aber charakterlosen Schönheit ausgehen läßt, welche
immer wohllautend und niemals eigenartig zu sprechen
weiß. Zu Tändelei und Spielerei ist die versform
dann neuerdings u. a. in unserer Butzenscheibenlyrik
geworden, zum Nlingklang und Singsang, der zierlichen
Reimchen nachjagt und die Schallnachahmung um
ihrer selbst willen pflegt. Überwiegend sind heute die
Gedichte, von denen Goethe sagt: „Nm jDrosa zu
schreiben, muß man etwas zu sagen haben, wer aber
nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime
machen, wo denn ein N)ort das andere giebt und
zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber
doch aussieht, als wäre es was."

Die Geringschätzung, welche heute bei vielen, und
nicht den geringsten Nünstlern gegen den Vers herrscht,
erklärt sich aus diesem Zustand der Form. Das wort,
daß alle Dichtung ohne Vers ein Nichts sei, dürfen

wir wohl nicht allzustreng nehmen. So sein die
wirkungen des Neimes und des Nh>ckhmus sind, so
machen sie doch nur eineu Teil der NÜttel der dich-
terischen Sprache aus uud erheben durch sich selbst
keine prosa zur Poesie. Ls giebt eine in versen zu-
geschnittene Begriffssprache, welche mit der Runst
nichts mehr zu thun hat, wie es eine künstlerische
Prosa ohne Reime und sesten Nhythmus giebt, welche
der Alltagssprache genau so sremd gegenübersteht, wie
es der vers thut. Die Sprache, welche Zola und
Zbsen in ihren werken pflegen, ist solch eine künst-
lerische prosa, eine Phantasie- und Lmpfindungssprache
so gut wie die Goethesche oder Byronsche verssprache,
und sie täuschen sich selber darüber, wenn sie glauben,
mit dieser prosa die wirklichkeit mehr erreichen zu
köunen, als mit dem vers. Zola selber spricht von
seinem „klingenden und duftenden Stil". Die Ästhetik
der Lrsahrung wird uns genaueren Ausschluß darüber
geben können, wann eine Dichtung das Bestreben
sühlt, in Prosa sich auszudrücken, wann in der Sprache
des verses. Znnere Gründe müssen auch hier vor-
handen sein. Ts scheint mir u. A., daß die prosa in
den Vordergrund tritt, wenn die Runst sehr viel Stoff-
liches zu verarbeiten sucht, wenn sich ihr viele neue
^toffe und Zdeen ausdrängen, und das Tendenziöse,
auch Doktrinäre einen beherrschenden Tinfluß ausübt,
wenn der Dichter, verwirrt von der Fülle der Gesichte,
die letzte und höchste dichterische Gestaltungskrast in
sich noch nicht entdeckt hat und auszunutzen weiß.
Das, glaube ich, ist vor Allem der Fall bei den heu-
tigen realistischen Bestrebungen. Nlan wendet sich der
prosa zu, weil mau noch zu sehr Rämpfer ist, weil
mau über die neuen Tmpfindungen und Gedanken
noch zu viel Reflexionen anstellt, statt sie als etwas
Natürliches unmittelbar hinzunehmen.

Aber wir sehen daneben auch einen realistischen
Vers sich heranbilden, der in seiner inneren Form von
dem der klassisch-romantischen Zeit wesentlich sich ent-
sernt. Lenken die Versdichtungen des Nealismus erst
die allgemeine Ausmerksamkeit auf sich, die ihnen sicher
nicht entgehen kann, so werden bei uns die Rämpse
um die Form erst in ihrer vollen Schärfe entbrennen,
so wie sie um t830 in Frankreich zwischen den Aka-
demikern und Neuromantikern entbrannt sind. Ts
wird den Nealisten dann sicher nicht das N)ort er-
spart bleiben, daß ihre verse rauh klingen, wie Bar-
barengesänge; wie man ihre Stoffe häßlich und brutal
genannt, so wird man ihre verse ebenso nennen, man
wird ihnen das ästhetische Verständnis für die wahre
Form abstreiten, wie die Fähigkeit, eine solche zu
bilden. Lin subjektives Necht haben die Anhänger
des Alten dazu. Zhr Ohr ist an die glatte Schön-
heit, an den schlechthin wohllautenden Rlang der
Platen-Geibelschen Schule gewöhnt oder hat vielleicht
gar unter dem Geklingel der jüngsten Formalisten das
Beste eingebüßt. ^o lange man in den Nlelodien
Nossinis schwelgte, konnte man für wagner kein ver-
ständnis gewinnen. LVenn man heute in der Rritik
verse loben hört, so ist es immer um ihres lVohl-
klanges und noch häusiger um ihrer reineu Neime
willen. Aber den wohlklang um seiner selbst willen
soll die Form gar nicht erstreben, der Wohlklang ist
nicht das Lsöchfte, nicht das Tinzige, was die dich-
terische Sprache erzielen will. Dies ist oielmehr die
 
Annotationen