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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 7 (1. Januarheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0091

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objekts, auf die Tier- und Pflanzen-
seele. Die mathematisch-physiralische
BetrachLungsweise, die bereits er-
gänzt worden war durch die phy-
siologische, entwickelte sich zur
psychologischen.

Und sonderbar: was die Wis-
senschaft erst auf so großem Ilmweg
ins Reich der Abstraktionen gefun-
den hatte, das erschien dem kind-
lichen Fassungsvermögen als das
Nächstliegende, als das Natürliche.
Kinder und Naturvölker pflegen die
Welt des Außermenschlichen zu be-
seelen. Freilich ist zwischen der
Naivität dieser Auffassung und der
psychologischen Naturbetrachtung des
Gelehrten ein Nnterschied. Das Kind
und der Wilde vollziehen den Be-
seelungsprozeß subjektiv. Sie gehen
von sich aus und deuten unter-
menschliche Lebenserscheinungen eben
menschlich. Der Gelehrte dagegen be-
müht sich, objektiv zu bleiben. Er
sucht Tier- und Pflanzenwelt ganz
aus ihrer untermenschlichen Natur
heraus zu begreifen. Er sucht nichts
herauszulauschen und nichts hinein-
zuschauen, was nicht in Wahrheit
darin ist. Er will den Naturobjek-
ten nichts andichten.

Nnd doch ist für den Tiefer-
blickenden der Nnterschied nur
graduell. Auch der objektive For-
scher kann, wo er aus untermensch-
liches Leben stößt, nur von seiner
eigenen Psyche, von seinem Sub-
jekt, ausgehen und Seelisches nur
darum psychologisch deuten, weil es
ihm in gewissem Grade analog dem
eignen Seelenleben erscheint.

Wegen dieser trotz des Gegen-
satzes innig verwandten Naturauf-
fassung ist die psychologische Betrach-
tungsweise unter den genannten die
kindertümlichste. Sie ist kindertüm-
licher, weil sie lebensvoller ist.
Sie seziert, sie tötet nicht. Sie zer-
pslückt keine Blüten. Sie huldigt
dem Grundsatz: Leben und leben
lassen! Ihre Forscherergebnisse konn-

ten nur entstehen durch liebevolles
Versenken, durch hundertsaches Be-
lauschen eines Lebens, das sich un-
gezwungen äußerte. Zur sogenanu-
ten Objektivität des Gelehrten ver-
mag sich das Kind allerdings nicht
zu erheben. Ihm mangeln Geduld
und Ausdauer, Kraft und Zeit. Aber
mit tausend Freuden begrüßt es die
Forscherergebnisse, wo sie ihm in
lebensvoller Gestaltung geboten wer-
den.

Diese Ausgabe kann nur die Kunst
lösen. Nur der Künstler vermag bei
aller scheinbaren Objektivität subjek-
tives Leben hervorzurufen. Die
psychologische Naturauffassung wird
bei ihm zur poetischen. Erst in
dieser sindet die pädagogische Prä-
paration ihre Vollendung.

Auch dieser Schritt ist bereits ge-
tan. Es haben sich in den letzten
Iahrzehnten Künstler gesunden, die
sich die moderne Naturaussassung zu
eigen machten und das Tier als
lebendiges Tier zu gestalten und
uns menschlich näher zu bringen
suchten. Ich erinnere an die Tier-
gestalten in den Dschungelbüchern
Kiplings, an Thompsons „Bingo
und andere Tiergeschichten", „Prärie-
tiere" und „Tierhelden", an die
„Wunderbare Reise des kleinen
Nils Holgersen mit den Wildgän-
sen" der Selma Lagerlöf, an Iack
Londons prächtige Erzählung „Wenn
die Natur ruft", oder — um auch
einige Deutsche zu nennen — an den
Heidhasen „Mümmelmann" von her-
mann Löns, an die Lebensgeschichte
einer weißen Maus von Max Nor-
dau und an den „Krambambuli"
der Ebner-Eschenbach.

Hier finden sich die Muster sür
den modernen Naturgeschichtslehrer.
Es sind keine Menschen im Tier-
gewande, wie sie unsre alten Fabeln
und Märchen bieten. Es sind wirk-
liche Tiere, und alle ihre Lebens-
äußerungen sind dem Tierleben ab-
gelauscht. Aber es sind keine un-

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