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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 10 (2. Februarheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0370

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zu erkennen! Vielleicht verlernen
wir dann den Irrtum, der sich nach
der glänzenden Entwicklung unsrer
abendländischen Kunstgeschichte aus-
nimmt wie eine Bußpredigt nach
einem Göttermahle, den Irrtum
nämlich, daß Baukunst eine Kunst
der Nichts-als-Sachlichkeit sei.

Bernhard Siepen

Vom Nürnberger Baum-
schreck

m Rathaus von Nürnberg sitzt ein
finsterer Drache. Er ist nicht
weniger grimm als die der Vorzeit,
nur in einem Punkt hat er sich
dem modernen, aufgeklärten Zeit-
alter angepaßt: er hat die Men«
schenfresserei aufgegeben und ist
Vegetarier geworden. Er lebt von
Bäumen und Sträuchern. Alljähr-
lich müssen ihm die Nürnberger eine
Hekatombe von Bäumen opfern.
Sonst fährt er über Straßen und
Plätze: „Der Baum muß weg! Der
Baum muß weg!" und frißt, was
ihm vor die Nase kommt. Einmal
hat er bekanntlich sogar die meisten
Nürnberger Wälle und Gräben kahl»
gefressen.

Ietzt hat er sich mit all der Dick--
selligkeit, die sich für einen Dra-
chen gehört, darauf versteift, die alten
Linden der Außeren Ziegelgasse zu
verzehren. Die Straße, die schon von
stattlichen Gebäuden umsäumt ist,
sollte endlich einen richtigen städti-
schen Fahrdamm mit Fußgänger-
wegen erhalten, und die Anlieger
sollten einen Teil des nötigen
Platzes dazu hergeben. Ia, sagten
die, aber wir tun's nur, wenn man
unsre lieben alten Linden vorm
Haus nicht abhackt. Aber der Baum-
schreck will das ja eben gerade, und die
Stadtverwaltung wagt nicht, sich ihm
zu widersetzen. Also: ihr gebt die
Bäume für den Drachen her und
bekommt den Steindamm, oder ihr
behaltet sie und seht zu, wie ihr mit

dem Schmutz und Sumpf des Weges
fertig werdet.

Sitzt nicht auf irgendeiner Nürn-
berger Burg noch ein Ritter Iörg,
der ausziehen kann, den Drachen aus
seiner Aktenhöhle hervorzulocken und
an einer der ältesten Linden aufzu-
henken? Damit er dort baumelnd
bei Amseltütü und Buchfinkenschlag.
zur Erheiterung der befreiten Stadt
verrecke?

Gesellige rmd gesellschaft-
liche Formen

ie gesellschaftlichen Formen, heißt
es, sollen fortan nicht mehr auf
dem alten Ideal der „Liebe", son»
dern auf den der Neuzeit gelege-
neren Gefühlen der „Duldsamkeit"
und des „Ertragens" aufgebaut
sein. Wenn das christliche Ideal der
„Liebe" tatsächlich „über unsre
Kraft" geht, und deshalb nicht mehr
formbildend für gesellschaftlichen
Verkehr sein kann, bleibt dann in
Wahrheit nur „Dulden und Ertra-
gen" als Formbildner möglich?

Stellen wir fest, daß die neuen
gesellschaftlichen Formen umfassen-
der sein müssen als die alten. Denn
sie müssen nicht nur für die oberen
Klassen passen, sondern für alle.
Den ersten Spatenstich zu einer
neuen Saat auf diesem Felde hat
die Nnterschicht des Volkes durch
ihre Erhebung und ihr Hervordrän-
gen ans Licht bereits getan. Denn
die Psychologie dieser Bewegung be-
ruht nicht nur auf dem Willen, von
allen irdischen Gütern ihr Teil ab-
zuhaben, sondern ebensosehr „wol-
len" sie die idealen, wenn das auch
vielleicht für den größten Teil von
ihnen im Anbewußten liegt. D a
ist es sicher. Diese Menschen wollen
die Gleichstellung Aller im Verkehr:
sie bedürfen also würdiger Aus-
drucksmittel, um sich zu geben und
darzustellen. Es handelt sich folglich,
in erster Linie heutzutage nicht uin
 
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