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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 10 (2. Februarheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0379

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tausend Telegramme. Der Krre-
gerverein von Posemuckel fühlte sich
gedrungen, der Offentlichkeit seine
Meinung kundzutun, der fortschritt-
liche Wahlverein von Tripstrill
durfte mit seiner gegenteiligen An-
sicht nicht zurückhalten. Und ein
Stammtisch in Iserlohn geriet in
poetische Ekstase: „Stets unentwegt
und feste drauf, die rechte Hand am
Säbelknauf.^ Telegramm an den
Obersten von Reuter. Oder wie andre
adressieren, denen von der Iahr-
hundertfeier der „Held von der Katz-
bach^ auf der Zunge liegt: an den
„Helden von Zabern". Wie muß
dem ehrlichen Offizier zumute sein
zwischen seinen fünfzehntausend
Telegrammen!

So schwatzhaft und erreg-
bar sind wir Deutschen ge-
worden. Wir können keine Mei-
nung mehr haben, ohne sie hinaus-
zuschreien. Soll an die Stelle des
Mannesideals unsrer Väter Tar-
tarin treten? St.

Politik der lauten Stimme

ls der Reichskanzler seine Poli-
tik durch Darlegung des Tat-
bestandes sowie seiner Beweggründe
und Zwecke verteidigte, also dadurch,
daß er sie von seinem Standpunkte
aus ganz einfach verständlich zu
machen suchte, schrieben einige Zei-
tungen: der arme, gute „Schul-
meister« — er weiß gar nicht, daß es
sich hier nicht um Vernunft, sondern
um Macht handelt.

Hier stehn sich zwei Anschauungen
von Politik gegenüber. Zunächst die
heut fast allgemeine: fest und un-
abänderlich sind die Interessen und
Programme der Parteien. Was dem
Programm widerspricht, ist also auf
alle Fälle tadelnswert und muß be-
kämpft werden. Was kümmert uns,
ob eine politische Handlung nach
höchsten Zwecken folgerichtig und
„vernünftig" ist? Wir mißtrauen

allem, was wider unsre Parteizwecke
geht.

Die andre Anschauung sieht in der
Politik gerade das vernünftige
Handeln. Sie sieht eine wesentliche
Aufgabe darin, von allen Beteilig-
ten zu lernen und deren Zwecke zu
würdigen. So gelangt sie vom
Trennenden zum Linigenden. Was
aber den Parteien ihre Berechtigung
gibt, ist, daß verschiedene Zwecke
als vernünftig erstrebt werden kön-
nen. Ieder wird sich bemühen, seinen
Zweck dem andern begreiflich zu
machen, den andern zu überzeugen.
Dann wird man stets zu einer rela-
tiven gegenseitigen Anerkennung
kommen und damit zu fruchtbarer
Arbeit.

Die Politik der Vernunft steht
gegen die Politik der lauten Stimme.
Iene arbeitet mit Äberzeugung aus
Gründen, diese mit Phrasen,Geschrei,
Gelächter. Iene lebt von der sachlichen
Arbeit, diese vom „Kampf". Welch
ein Bild würde unser öffentliches
Leben gewähren, wenn man nicht
mehr erstaunt und spöttisch aufblickte,
sobald sich ein Politiker an die Ein-
sicht und den guten Willen des so-
genannten „Gegners" wendet!

Ein erwachendes Volk

er Balkankrieg hat uns deut-
lichere Vorstellungen vom euro«
päischen Südosten gebracht, wir sehn
Gestalten und Farben, während wir
uns vordem damit begnügten, dort
in der Ferne im Nebel irgendein
uns gleichgültiges Völkergemisch zu
wissen. Es ist uns auch klar ge-
worden, wie nahe uns die Lebens-
fragen jener Völker selbst berühren,
es handelt sich da nicht nur um
wirtschaftliche Fragen für uns wie
in Ehina, am Kongo, in Amerika,
es handelt sich letzten Endes um
Sein oder Nichtsein. Die westeuro-
päischen Völker haben endgültige
Formen ihres Daseins gefunden, im

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