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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 10 (2. Februarheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0380

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Osten und Südosten aber werden dern völkrsche. Fast zu gleicher
noch Völker. Wie sie werden, Zeit lasen wir jüngst darüber im
welche Gestalten sie schließlich an- „Kampf" von dem österreichischen
nehmen, davon hängt samt der po- Sozialdemokraten Otto Bauer einen
litischen Gestaltung des WestensL vortrefflichen Aufsatz „Erwachende

auch die Zukunft seiner Kultur ab.
Das Gute hat uns der Krieg ge-
bracht: wir sehn in Ssterreich-Ungarn
nicht mehr einen Staat wie andre
auch, wir erkennen unter dem Dach
des Staates die verschiedenen Volks-
kräfte, die darunter wohnen, in ihrer
Eigenart, lernen ihre Geschichte und
ihre Hoffnungen begreifen, suchen
nach gerechten Bedingungen, unter
denen wir als Deutsche neben und
mit ihnen leben können. Hier han-
delt sich's um Werdekräfte und po-
litische Gestaltungsmöglichkeiten, die
für uns selbst im Mitrelalter liegen.
Das bedeutet für uns ein Umler-
nen. Mit dem modernen politischen
Schema der „Wirtschaftsinteressen"
und der „Konkurrenz auf dem Welt-
markt^ würden wir nur Fehler über
Fehler begehn. Unsre Politiker
müssen sich wieder in die mittel-
alterliche Kolonisationspolitik, in das
Werden der deutschen Stämme und
Staaten hineindenken, um Maßstäbe
für den Osten zu gewinnen. Dazu
freilich: Verständnis für typisch
slawisches Denken und Fühlen.

Ahnliches wie für Osterreich-
Ungarn gilt auch für Nußland. Die
naive Anschauung, daß das eben ein
Staat wie andre Staaten sei, nur
beträchtlich größer, ein Staat, der
nur als Ganzes beurteilt zu werden
braucht, ist falsch und darum schäd-
lich. Auch in Rußland gibt es
werdende Völker. Aber wie
wenige wissen denn bei uns, wie
sehr diese Probleme bereits die heu-
tige russische Politik bestimmen?
Auf dem Umweg über Osterreich
fangen wir an, zu lernen, was für
Dinge in Rußland vorgehn — nicht
nur wirtschaftliche, um die sich be-
zeichnenderweise die Reichsdeutschen
schon weit lebhafter bekümmern, son-

Z Völker" und von einem ungenannten
^ Osterreicher in den „Grenzboten^
etwas vom „Angelpunkt des öster«
reichisch-russischen Gegenfatzes".

Die eigentlichen politischen und
kulturellen Träger Rußlands sind
die Großrussen des alten moskowi-
tischen Reiches. Aber der Zahl nach
machen sie nur H3,3 vom Hundert
der Bewohner Rußlands aus, also
eine Minderzahl. Neben ihnen „er-
wacht" ein neues Bauernvolk von
fast 25 Millionen in Rußland: das
ruthenische. vom Hundert aller
Bewohner Rußlands sind Ruthenen.
Seit Iahrzehnten suchen sie ihre
eigene Sprache literaturfähig zu
machen und mehr und mehr neben
der großrufsischen zur Geltung zu
bringen. Was das bedeutet, zeigt
Otto Bauer mit einem Vergleich aus
der deutschen Vergangenheit: „Die
Mundarten der niederdeutschen
Bauern sind von den oberdeutschen
sehr verschieden. Auch in Deutfch-
lands Geschichte hat es eine Zeit
gegeben, in der es versucht wurde,
aus den niederdeutschen Mundarten
eine besondere Schriftsprache zu bil-
den. In einem Teile Deutschlands
ist dieser Versuch sogar gelungen.
In den Niederlanden entstand aus
deutschen Mundarten (der nieder-
sächsischen, der niederfränkischen und
der friesischen) eine befondere
Schriftsprache: die niederländische
Sprache. Holländer und Flämen
wurden sprachlich und kulturell vom
deutschen Volk, staatlich vom Deut-
schen Reich geschieden; sie wurden
zu einer besonderen Nation. Wäre
der Versuch nicht nur im westlichsten
Teile des niederdeutschen Sprach-
gebietes, sondern in ganz Nieder-
deutschland geglückt, hätten wie die
Holländer und die Flämen auch die

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