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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 10 (2. Februarheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0381

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übrigen Niederdeutschen nicht die
hochdeutsche Schriftsprache angenorn-
men, sondern entweder die nieder-
ländische oder eine neue, aus ihren
Mundarten gebildete niederdeutsche
Schriftsprache, dann gäbe es heute
nicht ein deutsches Volk, sondern
deren zwei; die Niederdeutschen
wären eine eigene, von den Ober-
deutschen in Sprache, Kultur und
staatlichem Leben getrennte Nation.
Die ganze europäische Geschichte
wäre anders verlaufen!" Wird die
Zukunft ein russisches Volk er-
wachsen sehn oder deren zwei: ein
grokrussisches und ein ukrainisches
(ruthenisches)?

Nun wohnt ein Teil dieses „er-
wachenden Volkes" außerhalb des
Staates Rußland: im österreichischen
Galizien, und zwar nicht weniger
als drei und eine halbe Million.
Im freieren Ssterreich können sie
sich leichter geltend machen als in
Rußland. Sie spielen hier schon
eine bedeutsame parlamentarische
Rolle im Reichsrat, kämpfen zu-
sammen mit polnischen Bauern
gegen die polnischen Großgrundbe-
sitzer um ein demokratischeres Wahl-
recht für Galizien, streben nach einer
eigenen Universität und werden sie
über kurz oder lang erhalten. Da-
mit wird der kulturelle Schwer-
punkt des jungen Volkes aus Ruß-
land nach Österreich verlegt. Wie
das wirkt, darüber schreiben die
„Grenzboten": „Der Gegensatz zu
Rußland, wo die Verbreitung von
in ruthenischer Sprache gedruckten
Bibeln heute noch strafbar ist, springt
in die Augen. Ukrainische Vereine
in Rußland forderten in Telegram-
men das Präsidium des Ruthenen-
klubs auf, im Kampfe um die Uni-
versität auszuharren, und diefes
wandte sich nun mit folgendem
Manifest an die Nation: »Die
ukrainische Nniverfitätsfrage ist nicht
bloß eine Angelegenheit der österrei-
chischen Rkraine. Diese Frage ist

deshalb mit einer solchen Wucht in
den Vordergrund getreten, weil sie
die ganze Ukraine von den Kar-
pathen bis zum Don betrifft. Ganz
Europa, die ganze zivilisierte Welt
werden solange nicht in Sicherheit
sein, bis dem räuberischen Vor-
marsche des Zarentums gegen den
Westen ein Damm entgegengefetzt
wird, bis die vom Zarentum in
Sklavenketten geschmiedeten Natio-
nen die Kraft gewinnen, das zarische
Imperium, dieses schrecklichste Ge-
sängnis der Völker, zu sprengen.
Indem wir für die ukrainische Uni-
versität kämpfen, die ein Zentrum
des geistigen Lebens der ganzen
Ukraine bilden wird, kämpfen wir
nicht nur für unsere gerechte Sache,
für die eigene Sprache und eine fchöne
Zukunft der Ukraine, sondern auch für
den Fortschritt und die Freiheit der
Welt, für die allgemeine Kultur.««

Rußland hat das größte politische
Interesse daran, das werdende Volk
zugleich niederzuhalten und an sich
zu ziehn. Daher die Unterdrückung
alles Ruthenischen innerhalb seiner
Staatsgrenzen, daher die eifrige
russische Propaganda im österreichi-
schen Galizien. Da hier die Ru-
thenen, zum größten Teil Klein-
bauern mit Zwergbesitz, über alles
erträgliche Maß vom polnischen
Großgrundbesitz bedrängt werden,
finden die russischen Agenten einen
wohlbereiteten Boden. Wäre im
letzten Iahr ein Krieg zwischen Ruß-
land und Österreich ausgebrochen,
so wäre weder das eine noch das
andere Land je eines Teils seiner rrw
thenischen Bewohner sicher gewesen.

tzinzu lommt das widersprechende
Verhältnis zu denPolen. DiePolen,
soweit sie nichLGroßgrundbesitzer oder
Allslawen sind, sehen in Rußland,
und zwar mit Recht, ihren größten
Feind. Sie unterstützten daher in
Rußland die ruthenische Bewegung.
In Österreich kämpfen zwar auch
ruthenische und polnische Bauern

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