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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 1 (Oktoberheft 1922)
DOI article:
Liebscher, Artur: Vom rechten volkstümlichen Musizieren
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0024

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auf deu Stil der Bachschen Zeit zurück. Das scheint in der Tat eine Mög--
ltchkeit zu sein, aus der Einstimmigkeit unseres volkstümlichen Musizierens
und aus dem ewigen Kreislauf dreier immer wieder angewendeter tzar»
monien herauszukommen. In der Kunstmusik ist die von der Gilde er«
strebte Form ohnehin nie ganz aufgegeben worden. Nur die Volksmusik
hat sie vergesseN) seitdem das Geheimnis entdeckt wurde, die ganze tzar-
monik einer Melodie mit drei Mkorden zu bestreiten. Wer in der Wieder«
aufnahme eines alten Stilprinzipes grundsätzlich einen Rückschritt sieht und
wer das Volk lieber zur Ableitung seines eigeneN) volkstümlichen Stiles
aus dem Zei'tstile der Kunstmusik überreden möchte, der muß bedeuken, daß
dem Volke gegenüber alle Aberredungsversuche in künstlerischen Dingen
versagen. Er müßte auch darauf gefaßt sein, daß er von dem jungenVolke
lächelnd gesragt würdL) welches denn eigentlich der musikalische Zeitstil der
Kunstmusik sei) aus dem sich ein Stil für das gehobene volkstümliche Musi--
zieren ableiten ließe. Denn wir haben wohl hundert verschiedene) sür die
einzelnen Künstlerpersönlichkeiten geltende AusdrucksweiseN) aber ganz ge-»
wiß keinen Aeitstil. Rnd wer etwa Schönberg oder Debussy) Schreker oder
Strauß als Vorbilder empfehlen würde) müßte sich wahrscheinlich sagen
lasserl) daß es doch wohl am einfachsten wäre, solche Künstler von Rang
schrieben einmal SLücke für den angedeuteten Zweck. Wenn das Volk für
seinen eignen Gebrauch deren Musik ablehnt) so ist das gewiß nicht Bos-
heit oder eine vorgefaßte Meinung) sondern nur der Beweis dafür, daß
es mit ihr nichts anzufangen weiß) weil sie für einfache Verhältnisse sich
nicht eignet und weil ihm für sein Musizieren alle aus ästhetischen Er^-
wägungen heraus gewonnenen Werturteile gleichgültig sind, solange ihm
die Musik selbst keine Freude bereitet. Lustlose Musik lehnt das Volk in
jedenr Falle ab. Dagegen hilft keine Aberredungskunst. Schließlich würde
der Fanatiker des modernen Stiles noch erfahreN) daß die Annäherung
an den Bachschen Stil, wie sie von den Gliedern der Gilde zur Wieder-
belebung der Volksmusik versucht wird) im Grunde garnicht einmal unmo-
dern ist) daß z. B. das Schönbergsche Musizieren letzten Lndes genau so
auf eine Verselbständigung der Stimmen und damit auf das Wiederauf-
greifen eines alten Ausdrucksprinzipes Hinausläuft) nur mit dem aller-
dings wesentlichen A.nterschied) der in der Anwendung eines für die musl-
kälische Betätigung des Volkes völlig unbrauchbaren tzarmoniesystems liegt.
Solange also von den Großen im Reiche der Kunst nichts geschieht) was
dem Volke unmittelbar nützt, darf man nicht schelteN) wenn es die Kleinen von
sich aus versuchen. Und wenn es mit soviel Ernst und Geschick getan wird
wie in der Musikergilde) so kann wohl mit der Zeit etwas rechtes dabei
Herauskommen. Wer freilich gewohnt ist) jedes Stück zuerst daraufhin an-
zuseheN) ob es ein Geniewerk ist, der tut von vornherein gut, die Volks-
musik ihre eignen Wege gehen zu lassen. Ansere leidige Gewohnheit, im-
mer nur das Genie zu suchen, hat ohnehin ein gutes Teil schuld an den
unerguicklichen Verhältnissen auf dem Gebiete der Gegenwartsmusik über-
haupt) weil heute sich schon beinahe jedes Talent fürchtet, als rechtschaffe-
nes Talent auf der Suche nach dem Genie übersehen zu werden, und sich
darum als Genie gebärdet. Anser Volk braucht Musik, die nicht mehr vor-
spiegelt) als sie in sich hat. Schlichtheit und Kraft im Ausdruck, das sind
ihre Lebensbedingungen. Das beweist das Volkslied. Wer also dem Volke
seine musikalischen Formen vom Primitiven ins Künstlerische zu steigern
vermag, ohne an jene beiden Wesenseigenschaften zu rühren, dem kann es

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