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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 5 (Februarheft 1923)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0243

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Vom Heute fürs Morgen

Glaube und Verstand

ie griechische Philosophie scheint mit
einem ungereimten Linfalle zu be-
ginnen, mit dem Satze: dasz das Was-
ser der Ursprung und der Mutterschoß
aller Dinge sei. Ist es wirklich mötig,
hierbei stille zu stehen und ernst zu wer-
den? Ia, und aus drei Gründen: er-
stens, weil der Satz etwas vom Ursprung
der Dinge aussagt; zweitens, weil er
dies ohne Bild und Fabelei tut; und
endlich drittens, weil in ihm, wenn-
gleich nur im Zustande der Verpup-
pung, der Gedanke enthalten ist „Älles
ist Lins". Der erstgenannte Grund läßt
Lhales noch in der Gemeinschaft mit
Religiösen und Abergläubischen, dev
zweite aber nimmt ihn aus dieser Ge«
sellschaft und zeigt uns ihn als Natur-
forscher, aber vermöge des dritten Grun»
des gilt Thales als der erste griechische
Philosoph. Hätte er gesagt: aus Was-
ser wird Lrde, so hätten wir nur eine
wissenschaftliche tzypothese, eine falsche,
aber doch schwer widerlegbare. Aber
er ging über das Wissenschaftliche hin-
aus. Thales hat in der Darstellungr
dieser Linheits-Vorstellung durch die
tzypothese vom Wasser den niedrigen
Stand der physikalischen Linsichten sei-!
ner Zeit nicht überwunden, sonderü
höchstens übersprungen. Die dürftigen
und ungeordneten Beobachtungen empi-
rischer Art, die Thales über das Vor-
kommen und die Verwandlungen des
Wassers oder, genauer, des Feuchten,
gemacht hatte, hättennm wenigsten eine
solche ungeheure Verallgemeinerung er-
laubt oder gar angeraten; das, was
zu dieser trieb, war ein metaphysischer
Glaubenssatz, der seinen Ursprung in
einer mhstischen Intuition hat und dem
wir bei allen Philosophien, samt den
immer erneuten Versuchen, ihn besser
auszudrücken, begegnen: — der Satz
„Alles ist Lins".

Ls ist merkwürdig, wie gewalther-
risch ein solcher Glaube mit aller Lm-
pirie verfährt: gerade an Thales kann
man lernen, wie es die Philosophie, zu
allen Zeiten, gemacht hat, wenn sie zu
ihrem magisch anziehenden Ziele, über
die tzecken der Lrfahrung hinweg, hin-

über wollte. Sie springt auf leichten
Stützen voraus: die tzoffnung und dir
Ahnung beflügeln ihren Fuß. Schwer-
fällig keucht der rechnende Verstand hin-
terdrein und sucht bessere Stützeu, um
auch selbst jenes lockende Ziel'zu er->
reichen, an demcher göttlichere Gefährte
schon angelangt ist. Man glaubt, zwef
Wanderer an einem wilden, Steine mit
sich fortwälzenden Waldbach zu sehen:
der eine springt leichtfüßig hinüber, die
Steine benutzend und sich auf ihnen
immer weiter schwingend, ob sie auch
jäh hinter ihm in die Tiefe sinken. Der
andere steht alle Augenblicke hilflos
da, er muß sich erst Fundamente bauen,
die seinen schweren, bedächtigen Schritt
ertragen, mitunter geht dies nicht, und
dann hilft ihm kein Gott über den Bach.
Was bringt also das philosophische Den-
ken so schnell an sein Ziel? Änterscheidet
es sich von dem rechnenden und ab-
messenden Denken etwa nur durch das
raschere Durchfliegen größerer Räume?
Nein, denn es hebt seinen Fuß eine
fremde, unlogische Macht, die Phanta-
sie. Durch sie gehoben, springt es wei-
ter von Möglichkeit zu Möglichkeit,
die einstweilen als Sicherheiten genom-
men werden: hier und da ergreift es
selbst Sicherheiten im Fluge. Ein ge-
nialisches Vorgefühl zeigt sie ihm, es
errät von ferne, daß an diesem Punkte
beweisbare Sicherheiten sind. Beson-
ders aber ist die Kraft der Phantasie
mächtig im blitzartigen Erfassen und
Beleuchten von Ahnlichkeiten: die Re-
flexion bringt nachher ihre Maßstäb'e
und Schablonen heran und sucht die
Ahnlichkeiten durch Gleichheiten, daS
Nebeneinandergeschaute durch Kausali-
täten zu ersetzen. (Nietzsche, „Die Phi-
losophie im tragischen Zeitalter dew
Griechen", Werke Bd. I).

Seneea über die Kürze des Lebeus

probenauseinerUeberfetzungvonherbertI.Holz

.... Glaube doch nicht, einer hätte
lange gelebt, weil er Runzeln hat und
weiße tzaare. Lr war nur lange da.
Meinst du, einer hätte die Weere um-
fegelt, weil den Ausfahrenden ein
Sturm erfaßte, ihn hin und her warf,

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