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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1922)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Wege zur Dichtung
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Schumann, Wolfgang: Liebe: vierter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0028

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(Areilich) die Lrschließung der Dichtung nach stofflichen Gesichtspunkten ist
O üur die erste Stufe einer sehr steilen Treppe. Solange dem Leser das
Wunder der Gestaltung> der Transsubstantiation nicht erlebbar wird, ist
vielleicht für die Erkenntnis oder die freispielende Phantasie einiges ge--
wonnen, nichts aber für das Knnsterlebnis. Die Wege) in seine Nähe zn
führeN) sind bekannt. Keiner verbürgt den Erfolg. Man kann den Blick
schärfen durch mündliche Diskussion, die etwa ergründet, was an einem im
Dichtwerk gestalteten Zustand, einem Geschehnis, einem Gegenstand, einer
Person das Wesentliche, das Entscheidende ist, worin es sich ausdrückt und
wie diesen Ausdruck wiederum der Dichter gibt, mit welchen tzilfsmitteln
des tzandlungs« und sprachlichen Baus, der Bilder, der Klangakzente, des
Tempos, der Linienführung u. a. m. Man kann durch vergleichende Be-
Lrachtung von Kunst und Schund den Blick für das Gestaltete schärfen. Man
kann, wie schon eingangs gesagt, durch gute Rezitation oder szenische Auf-
führung das unmittelbare, naive Kunsterlebnis herbeiführen, das sich nicht
Rechenschaft gibt, keiner Analyse fähig ist. Letzten Lndes aber führt nur
ein Weg sicher ins tzerz der Kunst, der der Gnade. Wir können Bilder und
Bücher zusammentragen, ordnen, zur Schau stellen, be- und umschreiben.
Die zweite, größere tzälfte der Arbeit fällt dem suchenden Menschen selber
zu. And das ist gut so. Wo bliebe sonst der Antrieb zur schöpferischen
Leistung, ohne die nichts Lebendiges dem Geiste sich schenkt? E. K. Fis che r


Liebe

Vierter Teil der Betrachtungen über die Arüiüebe des menschlichen Daseins*

^AGMn Menschtum ohne Furcht, ohne Nahrungtrieb, ohne Geschlechtstrieb
EHj^ist uns, auch für Zeiten früher Entwicklung, unvorstellbar. Wie immer
^°^wir die tzorden uns vorstellen mögen, von denen wir stammen, Furcht,
tzunger, Geschlechtsdrang bestimmen das Bild in seinen schärfsten Linien.
Auch Liebe? Wir wissen das nicht und werden es nicht wissen. Erwägungen
der Wahrscheinlichkeit sprechen dagegen, doch keine entscheidend; der Tag
der Geburt der Liebe ist so unbestimmbar wie der, an dem zum ersten Male
der Gedanke eines einzigen allwaltenden Gottes ein menschliches Gehirn
durchzitterte.

Man wird in diesen Bemerkungen einen schweren inneren Widerspruch
festnageln. Wie? Du gibst zu, daß Geschlechtstrieb uranfänglicher Mensch-
tumcharakter ist, und doch soll „Liebe" es nicht sein? Eine Lebensansicht,
die sich scharfsinnig, realistisch und überlegen dünkt, lächelt spöttisch über das
Unterfangen, Geschlechtstrieb und Liebe zu unterscheiden. Sie weist nach,
daß begriffliche Rnterscheidung beider unmöglich ist, und erbietet sich mit
der Aberlegenheit des Skeptikers, geschlechtliche Regungen in jeder, aber
auch jeglicher „Liebe" nachzuweisen. Nur Zimperlichkeit, Sentimentalität,
Anwissenheit oder eine religiöse oder „idealistische" Philosophie, die auch
um den Preis der Wahrhaftigkeit das „tzöhere" retten und vor dem „Nie-
deren" bewahren will, wird sich gegen diese Einwände von vornherein ver-
schließen und ihnen das „Ideal selbstlos-reiner Liebe" pathetisch entgegen-
Halten, das von solchen „materialistischen" Gehässigkeiten nicht berührt
werde. Doch ist solcher Streit unfruchtbar.

Einmal ist Geschlechtstrieb nicht „Das Niedere" und nicht befleckend. Die
ganze Vorstellung, irgend etwas in uns sei durch Berührung und Verwe»

^ Dre drei ersten Teile erschienen im Iuni-, Iuli« und September-tzeft.

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