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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 1 (Oktoberheft 1922)
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Schumann, Wolfgang: Liebe: vierter Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0029

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bmrg mit ihm seiner Würde und Schönheit und Reinheit entkleidet, ist ein--
fach abzutun. !gst Geschlechtstrieb Irrtrieb, Zerwürger oder Zersetzer unseres
Wesens, so darum, weil wir ihu mißhaudeln und irreleiten, an sich ist er
Leben reinsten Quells. Daß wir ihn mißhandeln und irreleiten, daß wir
nicht verstehen, Pflege und Lettung des Lebens unserer Sinne und dieses
entscheidenden Triebes zur untersten und unleugbaren Aufgabe der Kultur
zu machen, daß wir im „Körperlichen" Barbaren bleiben und noch dazu
glauben, wir könnten so zu einer bleibenden Kultur kommen, daß wir kaum
ahnen und noch weniger glauben, wie unabänderlich die schöpferische und
lebendigfreie Entfaltung unserer Seele abhängig ist von der Kultur des
Trieblebens — dies erst bewirkt einerseits den unsruchtbaren Skeptizismus,
anoerseits die hilflos kitschige Verhimmelung der „Liebe"; ern Gedanken-?
gang freilich, der Europa fremd ist, wie die eleusinischen Mysterien. Wrr
aber haben, einmal in europäischem Bezirk stehend, zum zweiten den Skep-
tikern zuzugebeN) daß tausendfach vielfältiger, auf unabsehbar viel mehr
Bahnen und durch unabzählbar mehr Verwebungen der Geschlechtstrieb die
Entfaltung der Liebe umspielt und mitbestimmt als landläufige Versentimen-
talisierung der Liebe wahrhaben will. Das Verhältnis beider zueinander
ist ähnlich dem zwischen dem „eigenen" Ich und dem „ererbten". Das Kind
sagt: „Ich bin ich! So geboren wie ich bin unter meinem eigenen, einzigen
Gesetz und Stern, einmalig und keinem andern gleich!" Die Eltern erwidern:
„Hättest du Groß« und Urgroßeltern gekannt, so würdest du sehen, wie tief
du bestimmt bist durch deren geistleibliches Erbe, und in reiferem Alter
wirst du fühlen und erblicken, wie weit und tief dein Wesen — unseres ist!
Du bist die Summe deiner Vorfahren!" So wie dieser alltägliche Streit
unaustragbar ist, da in diesen Dingen Zählen, Messen und Experiment ver-
sagen, so ist es der um Liebe und Geschlechtstrieb. Was wir mit Worten
fassen können aus dem tausendfältigen Erlebniszusammenhang, das sind
äußerste Fälle, stärkste Ausprägungen des einen und des anderen Triebes,
die selten so rein und unzweideutig erlebt werden. Indes, sie werden
erlebt) und sie zu betrachten, lehrt uns auch das größere Reich der Misch-
Fälle und unlöslichen Verknüpfungen besfer zu verstehen.

^m Haushakt des Lebens erscheint Liebe als der wundersamste der be-
Owegenden Faktoren. Auf der Stuse geringster Erregtheit noch „Unruhe"
unseres Inneren, in mittkerer Kraftfülle lockende Vervielfältigerin und An-
reizerin aller Geistkräfte, reißt sie auf der Höhe ihrer Macht das Mensch-
wesen über alle Abgründe, Hemmungen, Ikmdrohtheiten und Schrecken hin
zu unfaßlichen Taten, hin bis in den mutig erlittenen Tod und in einen
inneren Zustand der „Erlöstheit", den mit Worten abzuschildern ewig ver-
gebliches Bemühen bleibt.

Das Bündel unserer Antriebe ist unser „Leben", als Gegenspiel der Träg«
heit und Ermattung. Aus Schlaf und Traum, aus der unentfalteten Kind-
heit enttauchen wir und finden uns wach und gewillt zu Lätigem Leben.
Furcht bewegt uns zu Maßnahmen des Schutzes, Nahrungtrieb zu denen
des Erwerbs, Geschlechtstrieb zu körperlicher Entfaltung, Ausdruck- und Ge-
selligkeittrieb verbinden uns in menschliche Gemeinschaft, Ehr- und Macht-
trieb und Wissensdrang wirken Taten der Organisation, der Zerstörung und
des Geistes. Freiheittrieb entreißt uns allzu strenger Bindung.

Versuchen wir, das Bild einer Menschheit auszudenken, die von diesen
Trieben allein beherrscht wäre, so erscheint das Leben seltsam hart, mecha-
nisch, unfroh und stimmunglos. Was auch geschähe, es würde Erhaltnng,
 
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