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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI Artikel:
Hoffmann, Paul Theodor: Philosophie des Theaters
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0267

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S

Philosophie des Theaters

eit man nicht mehr in die Kirche geht, ist der einzige öffentliche Gottes»
dienst das Theater"/hat Grillparzer gesagt.

^ - Würde er die Lntwicklung erlebt haben, die wir heute durchmachen,
und vielleicht noch ein Stückchen darüber hinaus, so hätte er sagen müssen:
^Seit man nicht mehr ins Theater geht, ist der einzige öffentliche Gottesdienst
das Kino/

^vvrie dem auch sei: Sert dem Kampf zwischen Nietzsche und Wilamowitz
^^wissen wir, daß das Theater aus religiösen Reigenaufführungen, aus
Maskenfreiheit dionysisch Begeisterter hervorgegangen ist. So in Griechen-
land. Wir wissen auch, daß das neue Erwachen des Theaters im Mittel-
alter aus Krippenspielen seinen Arsprung nahm, und daß die alten Mei-
stersinger-Aufführungen und tzans Sachs-Spiele zum Teil in der Kirche
stattfanden. Äber die Anfänge des indischen Theaters sind wir noch nicht
genügend aufgeklärt, doch scheinen die neuesten Forschungen auch hier auf
eine Entwicklung des Bühnenlebens aus religiösen Leitmotiven zu deuten.

Der Kern des Theaters—liegt er auch heute noch im Religiösen? War-
um gehen die Menschen eigentlich so gern zu den Brettern, die „die Welt
bedeuten"? Warum sehen sie so gern die Welt im Spiegelbild Thalias?

In Zeiten, da Kulturen in ihren Anfängen sind, ist das Theater noch nicht
da. Der Mensch hat das Theater noch nicht nötig. Lr ist in sich und ün-
mittelbar mit dem Absoluten, dem quellenden Leben verbunden. Das Ab-
solute: Der Gott im Blitz, in Sturm und Eiche, die Göttin im Quell, die
Gottheit im fruchttragenden Acker, im weisheitraunenden Orakel, in der
ekstatischen Menschengemeinschaft reden unmittelbar zu ihm.

Die Kultur wächst. Mit ihr die rationale Einsicht und die technische Be-
wältigung der Lebensaufgaben aus rein menschlicher Kraft. Die Götter
verblassen. Sie ziehen sich zusammen zur Gottheit, zum Weltwillen, wie
man es nennen will. Blaß, „abstrakt", nicht mehr den Sinnen dargeboten,
nur noch der Seele erschließbar, waltet eine namen- und gestaltlose Kraft
über dem Menschtum. Die unmittelbare Bindung des Menschen mit dem
Absoluten, die plastischl-konkrete, versinkt. Sie wird geistig, unsinnlich. Wo faß
ich dich, Anendlichkeit, wo? ruft nun das vereinsamte, hilflose Menschenherz,
dem Einsicht und Technik nicht Genüge tun. Es sucht, es bleibt nicht mehr
in sich. Es gerät ekstatisch „außer sich". And es „beschwört" jetzt das Ab-
solute in jener Sphäre, wo Thespis die ersten Bretter zimmerte. Im Sinn-
lichen des „Lheatrons", der Bühne und des Zuschauerraums, wird das
Abersinnlrche heraufgeholt,- unsichtbar, doch dem Fühlenden schauervoll nahe,
schreitet das „Schicksal", der „Weltwille", die Gottheit durch die Ereignisse
hin, die das Auge auf der Bühne schaut, das Ohr von der Bühne her ver-
nimmt; in der Tragödie wird das Schicksal verwirklicht, in der Komödie
wird es überwunden.

(TXie Gottheit blüht im Theater von „innen^ nach „außen". In gmmer
^reicheren Ereignisverzweigungen, immer volleren Orchesterklängen des
Menschlichen, scheint sie sich kundzutun. Immer stärker entfaltet sie die
reiche Amwelt, immer voller werden die mannigfachen Schicksale, Irrungen,
Wirrungen ausgebrertet, rmmer weiter brandet das Leben ins Äußere. Die
großen Dichter fürs Theater, Aischylos und die Seinen, Shakespeare, Cal-
deron, Schiller, Goethe sind die Werkzeuge und Vollstrecker dieses Willens
gewesen. Die Menschen, die diesem Theater dienen, Schauspieler und Pu-

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