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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI issue:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI article:
Hoffmann, Paul Theodor: Philosophie des Theaters
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0268

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blikum: sie dienen noch, bereit oder unbereit, der Gottheit. Der Schauspieler,
der Hamlet oder Faust spielt, gliedert sich durch sein Spiel in das grotze
Weltweben ein. Er rückt das Schicksah das der Mensch vor Gott, vor dem
Absoluten erleidet, seinen Glauben oder Anglauben in den tzimmel oder
in die Hölle des dargestellten Seins. Der Zuschauer aber — und schon hier
beginut die entscheidende Wendung! — sucht und findet darin zugleich
seine Welt — oder wenn nicht das Ganze seine Welt ist — so empfindet
er, der Kleinere, doch zumindest Teile daraus als seine Welt. Seine Lust,
seine Leiden, sein Glück, seine Not, seine Hoffnungen findet er im Schauen
des Spiels auf dem Theater wieder; indes, das „letzte" Erlebnis ist hier
im Grunde noch dasselbe wie das, das ein religiös anders gearteter Mensch
in einer anderen Epoche oder einer anderen Form vor dem Altar des Ge-
kreuzigten oder dem Seelenwanderungsrade Buddhas hat.

^e jünger eine Kultur ist, desto unmittelbarer, ohne Zwischenspiel der
<1Welt, ist der Mensch mit der Gottheit verbunden,- je älter sie wird, desto
breiter wird das Mittel-Wesen des bunten entfalteten Daseins. Kult und
Kirche geben den kulturell jungen Generationen die Bindung mit dem Ab-
soluten. Ie weniger sie aber älter werdenden, differenzierten Generationen
genügen, desto mehr tritt das Theater in den Vordergrund. Das war in
Indien und tzellas so. Das ist auch der Fall im Abendland. Daher auch
die schließliche Feindschaft zwischen Kirche und Lheater, obwohl die Kirche
das Theater geboren hat. (In der Kirche steckt von Anfang an schort viel
Theater). ' l

^7>er älter werdende Mensch liebt immer mehr Rückschau, Selbstbespiege-
^lung, Erinnerung. Er stellt sein Schicksal nach außen, er objektiviert es.
Gleichermaßen liebt der älter werdende Kulturmensch das Theater immer
mehr. Auch das Theater stellt das Schicksal nach außen. Zuletzt aber kann
es dahin kömmen, daß das. „Blühen" der Gottheit ins Außenseiende so
ins Weite führt, daß aus dem Außen Veräußerlichung, Verflachung wird.
Die Bindung der dargestellten Welt mit der Gottheit, die sie einst lebendig
beschwor, wird so dünn, so schwach, daß sie fast verschwindet. Dann wird das
Göttliche über dem dargestellten Stoff völlig vergessen. Die entscheidende
„Wendung" ist vollzogen! Die große Masse der durchschnittlichen Thea-
Lerstücke in ihren Aufführungen zeigt diese Wendung längst an. Aber
selbst in ihnen erlebt der Zuschauer noch Schicksal, noch Welt. And sei sie
noch so blaß und abgelebt, filtriert, verlogen und verbogen, verkitscht: auch
im Kitsch lebt am äußersten Rande noch ein verdünnter tzauch, der an das
Absolute erinnert. Immer schneller lebt der moderne Mensch im Äußeren,
immer schneller muß daher die Selbstbespiegelung, die Rückschau abgehaspelt
werden. Weil es im Theater nicht rasch (oft auch nicht veräußerlicht genug)
geht, bietet das Laufbild — „Lauf-Bild"! — glänzenden Ersatz. „SeiL
man nicht mehr ins Theater geht, ist der einzige öffentliche Gottesdienst das
Kino." Das Kino ist gerade nach dieser Seite hin die konsequente Fortsetzung
des Theaters; und schon deshalb ist alle Kino-Reform eitel. Was die Masfe
braucht, das muß sie haben: Bun erlebt sie in den Verbrecherjagden, in
Glanz, Glück und Elend des Filmprunks, in den Sälen voll Brokat, Licht
und schöner dämonischer Frauen, in dunkel belichteten Gassen mit Laster-
höhlen jene Dämonien, die sie begehrt und an denen sie sich berauscht. Sie
erlebt sich darin, lihr Schicksal, ihr armes „Göttliches^. Einst beteten die
Menschen zu den Gottheiten der tzeide, Flüsse und Felder, zu Diana, Ne-

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