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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 4 (Januarheft 1923)
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Etwas vom Eide
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0190

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feierliches Bekenntnis völlig überflüssig erfordert zu Dingen, die (Lrzeugnis
tiefer Seelenbewegungen sein müssen.

Bei Gelegenheiten vom Typus des Atheisteneides gar wird das feierliche
Bekenntnis zu einer Lüge unter Androhung von Strafen erzwungen. Der
Zeuge muß lügen, damit man sicher sei, daß er die Wahrheit sagen werde.

Was für eine Kultur und was für eine Religion drückt diese Handhabung
des religiösen Eides aus? Gr. G.

Vom Heute fürs Morgen

Blühen

eulich ging ich an einer Drogerie
vorbei- deren eines Schaufenster
zur Anpreisung eines Mottengiftes sehr
lustig ausstaffiert war. Das Hauptstück
bildete eine große hölzerne Figur, grell-
rot angestrichen, nrit kurzen Hörnern,
deren eines Bein, braun und behaart,
in einen Pferdehuf endigte. Diese
„Plastik" war zweifellos Hübsch ge--
nracht.

Ich habe einmal in der Völkerkunde
davon gehört, daß Dinge, die vor lan--
gen Zeiten noch lebensnotwendigeGe-
räte waren, etwa Bogen und Pfeil,
im Laufe der Generationen, wenn die
Männer sie nicht mehr brauchen, nicht
mehr gebrauchen können, zum Kinder-
spielzeug herabsinken.

Der Leufel, in dem frühere Iahr-
hunderte ein Prinzip der Welt
sahen, nach dem Luther noch mit sei-
nem Lintenfaß werfen konnte: heute
ist er gerade gut genug, um (in Ver«
wechslung mit Gevatter Sensenmann)
ein Mottengift anzupreisen.

Kein Mensch erregt sich darüber.
Wem fällt es überhaupt auf? Man
sieht es nur ebenso mit halbem Auge,
wie etwa einen Iungen, der Arm-
brust schießt oder Indianer spielt.

Sprechen wir es doch endlich —
— oder wieder einmal? — klar und
unzweideutig aus: Wir glauben heute
an kein vermenschlichtes Prinzip der
Welt mehr, weder an einen Leufel
noch an ein — gasförmiges Wirbeltier.

„Gott" bedeutet heute den gläubig-
sten Menschen in Europa ein in uns,
in aller Welt sich Entfaltendes — be-
griffen in jenem tiefsten Gefühl noch
seltener Augenblicke, daß „Leben" nicht
sinnlos sei.

Anseren persönlichen Gesprächen ist
das Thema Religion fast abhanden ge»

kommen. Weil Religion und Dogma
verwechselt werden. Früher waren sie
dasselbe. Aber heute zweigte unser re«
ligiöses Sehnen in andere Bahnen.
Die Scheu, das ehrlich einzugestehen,
führt zu jenem verlogenen Am-den-
Brei-gehen. Daß uns Ehristus immer
einen größten, unerhört größten Men-
schen bedeuten wird, verwechseln wir
damit, daß mythologische Züge auf ihn
übertragen, dogmatische Formeln von
ihm ausgesagt wurden. Was ist es
denn, das uns an ihm ergreift? Sehen
wir ihn deutlich und am liebsten als
den an das Kreuz Genagelten, „Mes-
sias^, dessen Opfertod Ms automatisch
von der „Erbsünde" „erlöst"? Oder sehen
wir ihn als den, der erhobenen Haup-
tes frei und ehrlich tat, was seine
tiefstinnere Stimme für recht hielt?
Als den Anbestechlichen, tzilfsbereiten?
Als den, vor dessen klar forschendem
Auge alle Lügen zusammensanken, die
Wertskala der Erscheinungen einfach
und allen zugänglich ward: Du sollst
Gott lieben, deinen Nächsten lieben,
der Rest ist unwichtig?

Sehen wir ihn so?

Ich will sagen: Die dogmatischen
Symbole sind heute für uns fremd
und inhaltsleer geworden. Weil wir
ans anderen Augen in die Welt
schauen. Unser Drogeriebild zeigt, wie
diese dogmatische Symbolsprache an
ihren erponierteren Punkten bereits
zerbröckelt ist. Der Leufel ist kein Welt-
prinzip mehr für uns.

Andere Bilder sprechen Diefstes
und Heiligstes, vielleicht: wenn ein
Blütenkopf sich ins Licht hebt und

seine Blätter öffnet __ Wie es un-

sere Dichter besingen: Verhaeren, der
sich an die Erde wirft und den heiligen
Mutterboden küßt — und viele andere
ähnlich.

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