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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 6 (Märzheft 1923)
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Schumann, Wolfgang: Ausdruck: sechster Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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Bildnerei der Geisteskranken
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0276

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liche Seele, sprechen wir noch einmal „Psychologisch", will sich ausdrücken
im Kunstwerk, und dieser urleidenschaftliche Wille allein reicht aus,
Dauerndes zu gestalten. Menschliche Seele, sprechen wir nun „meta-
physisch", will sich verwirklichen und verewigen. Sie verwirklicht sich,
indem sie, die unsichtbare und unhörbare, „wirkliches" Gebilde wird:
Kunst. Sie verewigt sich, indem sie voll dämonischer Kraft ihrer Selbst--
verwirklichung eine im Geist bleibende Form aufprägt, Materie zwrngt,
Geist zu sein und als solcher unvergänglicher Ausdruck der „wirklichen"
Seele! Diese Dämonie allein, durch die Seele unsterblich wird, vermag
das Rnfaßliche, daß Sappho und Sophokles, Li tai pe und der kaiserliche
tzui tsung, Beethoven, Goethe, Michelangelo und Rembrandt unsere Zeit-
genossen im Zeitlosen werden, daß sie mehr unser sind als die Millionen
Unausgedrückten und Unverwirklichten von oder M3. Sie allein
vermag das Wunder, daß über Iahrtausende und über Grenzen der Sprache,
Sitte und Rasse hinweg ein Einsfühlen mit Trägern anderer Zerten
und Völker uns der Menschheit gewiß und der Seelen-Lwigkeit sicher macht.
Daß mitten in unser Werkeldasein und Zwecktreiben hinein plötzlich der
Blitz strahlt und uns aufruft und eingedenk macht höheren Menschtums.
Der Blitz heißt Kunst, und er zuckt als Ausdruck aus der Gewitter-
wolke schöpferisch hoher Gestalter-Seelen. Sch.

Bildnerei der Geisteskranken

^Hebten wir in andern Zeiten, so würde am Lingang dieses Kunstwart-
^EhefteZ die Wiedergabe eines Gemäldes „Der Würgengel" stehen. Einer
^^in Heißen Farben flammenden Vision, darin ein sachlich-nüchterner
Würger, Teufel oder Engel — guer Bild durchschneidendes Schwert in der
Rechten. linker Arm das aufzuckende Opfer niederwuchtend — hinaufgestei-
gert erscheint in die Sphäre, wo die letzten Argewalten der Welt sichtbare
Gestalt annehmen und sich dem Schauen des Bildners grausig offenbaren.
Ebenbürtig als Komposition, Farbenkatastrophe und Gesicht den größten
Würger-Visionen aller Zeiten. Der Meister dieses Bildes, so müßten wir
dann Hinzusetzen, heißt Franz Pohl; er lebt seit (898 in einer deutschen
Irrenanstalt; unheilbar, der Welt der Wachen und zweckhaft Wirkenden
vollkommeri entfremdet, still und unzulänglichl, jenem verdämmernden Greis
tzölderlin ähnlich.

^as Bild findet sich in tzans Prinzhorns Werk „Bildnerei der Gei-
^steskranken" (Verlag Iul. Springer, Berlin). Das heißt: in einem ebenso
aktuellen wie überzeitlichen, ebenso weittragenden und bedeutenden wie
mißbrauchbaren und überraschenden Buch. Seit die bildende Kunst, auffälli-
ger, doch nicht früher noch entscheidender als die andern Künste, sich in den
letzten Iahrfünften einem uralten aber lange vergessenen Gesetz unterstellte,
dem des ungebundenen Ausdrucks persönlicher Erlebnisse, seit dem Beginn
der „expressionistischen" Welt-Bewegung ist zum Aberdruß und im Aber-
fluß die Rede von der Rarrenhaftigkeit und Verrücktheit, vom Wahn und
Irrsinn der Neueren; selbst Stimmen haben nicht gefehlt, die solche Worte
nicht allein als starken Ausdruck persönlichen, schimpflustigen Mißbehagens,
sondern als seriöse Kennzeichnung im Sinne medizinisch-psychologischer
Charakteristik gebrauchten; allen Ernstes wollte man die Äeueren in die
Gruppe der Geisteskranken einordnen und dann zur Tagesordnung über-
gehen. Mit der wohltuendsten Sachlichkeit und mit schlechthin überlegener

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