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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 6 (Märzheft 1923)
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Schumann, Wolfgang: Ausdruck: sechster Teil der Betrachtungen über die Antriebe des menschlichen Daseins
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0275

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tisch entstarnint, dient religiösem Trieb. Tanz* ist zuweilen gemernschaft«
bildend, vielfach Mittel des Geschlechtstriebes, auch dem Kriegsdienst
„dienstbar". Baukunst entwächst zweckhafter Bautätigkeit. Bildende Kunst,
höchst vielfältig entstammt und verzweigt, entspringt mit aus Schmuck-
bedürfnis, Symbolschau, Ordnungsneigung (so die Ornamentik), Abbild»
willen. Alle Künste danken zudem viel einem Spiel-Trieb im Menschen,
den wir als selbständig gelten lassen müssen; und zuletzt einer Lust am
Sinnenschmaus, am Klang-, Farben« und Formenrausch an sich.
«fttarum aber unterstellen wir all dieses vielfältige Treiben, dessen
-^VMannigfaltigkeit einen einheitlichen „Ursprung der Kunst" ausschlreßt,
dem einen tzaupttrieb, der auf Ausdruck gerichtet ist? Man könnte
darauf antworten mit einem vergleichend-siebenden Verfahren; wenn
trotz Erlöschens der religiösen Betontheit das Drama sich als Kunstform
erhielt, was anderes denn sollte ihr Lebenskraft verliehen haben über
die Dauer ihrer ursprünglichen hinaus, als der Ausdrucktrieb Schaffen-
der, der sich ihrer bemächtigte, was denn sonst? Wenn Musik „entstand"
aus werbendem Gesang, Lautgebärde, Mitteilungbedürfnis, oder aus wel-
chen theoretisch erschlossenen Vorgängen immer, was unterscheidet denn
Musik-Kunst von jenen vermeintlichen Anfängen, wenn nicht die Tatsache,
daß Ausdrucktrieb-Schaffender sie in seinen Dienst stellte? Oder unter
anderem Gesichtpunkt: wenn es Abbilder von Wirklichem gibt, deren
GegenstL d, der darauf abgebildet ist, keinen Menschen als solcher mehr
berührt 'und interessiert, an etwas erinnert oder mahnt, und wenn solche
Abbilder dennoch heute noch Tausende hinreißen zu tiefer Erschütterung,
was andres reißt denn sie hin in aller Welt als der Ausdruck einer
schaffenden Seelenkraft darin? Wer ist denn Graf C oder der Maler d),
den Raffael oder van Dyck gemalt haben? Fremde, gleichgültige Leute!
aber was Raffael und van Dyck „ausgedrückt" haben, indem sie sie ab-
bildeten, das ist uns nicht fremd noch gleichgültig! Oder abermals unter
anderem Gesichtwinkel: Glaubt ernstlich jemand, der flüchtige Reiz, Farben
zu kombinieren und Klänge zu mischen, habe je einen Menschen ein
Leben lang zu freiwillig getragenem Oualdasein veranlaßt, damit er nur
ja Farben« und Klangrauschgetränke für die rauschbedürftige Rachwelt
fertigstelle? und nicht vielmehr jener allgewaltige, Opfer so gebieterisch
fordernde wie göttlich-gnädig lohnende Trieb zum Ausdruck der Seele?
Und diesen Gedanken erweitert: mustert die Antriebe alle durch, sämtlich
und ohne Ausnahme, die etwa sonst ein Schaffen hervortreiben könnten,
für das je und je das volle Leben rückhaltlos eingesetzt wurde, mustert
sie vom „Schmucktrieb" bis zum „Lehrtrieb", vom „Werbetrieb" bis zum
„Mitteilungtrieb" — die alle, wenn denn diese Namen etwas Wesen-
tiefes bezeichnen sollten, noch viele andre Mittel haben, sich zu betätigen —,
und wenn ihr sie gemustert und in euch nacherlebt habt, fragt, ob einer
von ihnen auch nur einen Bruchteil der Gewalt hat, die offensichtlich
dazu gehört, jahrtausendüberdauerndes Werk zu bilden —! Nein! Mensch-

* Da hier von „werkschaffendem" Trieb die Rede ist, mag die Lrwähnung
des Tanzes befremden. Indes, die Tatsache, daß Lanz heute noch „flüchtig",
einmalig, vorübergehend ist, ist rein zeitlich. Auch Musik war einst flüchtig — vor
Erfindung der Notenschrift. Schon heute ist die Epoche voraussehbar, in der
Tanz niedergeschrieben werden wird. Das Kino hält ihn schon heute fest. Eine
„Tanz-Schrift" ist zu erwarten. Dann wird es Lanz-Komponisten geben wie
heute Musik-Komponisten.

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