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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 1 (Oktoberheft 1922)
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Troeltsch, Ernst: Die Verösterreicherung: Berliner Brief
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0061

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tration zum Widerstand gegen Frankreich und zur Festigung der inneren
Verhältnisse das Geforderte ist.

Die steigende Desillusionierung aller Phantasten und die zunehmende
Not werden bewirken, was Einsicht und guter Wille nicht bewirken
können. Aber die Preise, die wir für alle Einsichten in nüchtern-reale
Tatsachen und Möglichkeiten zu zahlen hatten, waren im letzten Dezen«
nium fürchterlich. Sie werden auch weiterhin entsetzlich sein. Die
historisch-soziologisch-politische Einsicht in unsere wirkliche Lage und rhre
Möglichkeiten ist erst im allerersten Anfang, sich umzustellen und neue
Wege zu suchen. Und es ist ein geringer Trost, daß die Menschen draußen
größtenteils — von einigen mutigen Engländern und Neutralen abge-
sehen — nicht ein bißchen mehr bereit sind, Neues zu denken und zu wollen.
Äberall sind es die alten Schlagwörter und Interessen, die alten Themen
und Praktiken, die an der kranken Welt herumarbeiten und mindestens
einen partiellen Profit für einzelne zu sichern suchen, ehe die Sündflut
kommt.

Rnd doch wäre es Zeit, die ganze historisch-politisch-ethische Gedauken-
welt der bisherigen imperialistischen, schrankenlos kapitalistischen und na-
tionalistischen Periode umzudenken. Sie hat anderen Zeiten entsprochen
und die Gegenwart fordert neue Gedanken vor allem. Sie müssen freilich
erst gefunden und wirksam formuliert werden. Vor dieser geistigen Arbeit
aber Herrscht ein großer Abscheu bei Sozialisten und Antisozialisten, bei
Militaristen und Pazifisten, draußen und drinnen. Mutige und klare
Köpfe wie Keynes und Nitti mögen dabei vorerst die beste Führung geben.
Die tzaupthoffnung bei uns ist eine neue Iugend, an die man trotz aller
Oberlehrer und Provinzialschulkollegien zu glauben nicht aufhören kann.

Berlin, U- September W22. Troeltsch

Vom tzeute fürs Morgen

Wiffen und Weisheit

^hr kennt alle den Doktor Faust. Ein
Ofeuriges Herz, ein klarer Verstand
ringen sich müde um das Geheimnis
des Lebens.

Als junger Mensch — wie wir —
sühlt er sich ratlos im Wirbel von
Ereignissen, die er nicht deuten kann.
Schicksale weisen ihn auf Götterah»
nuug; Menschen sieht er im ewigeu
Streit umMachi und Besih, er tastet nach
einer Gerechtigkeit, die ihre Ansprüche
schlichten wrrd. Am ihn und iu ihm
vollzieht eine unentrinnbare Macht, die
er stammelnd Natur nennt, Wandlun-
gen, deren Sinn er nicht begreift. Nur
dumpf zu fühlen, daß Gesetzmaßigkeiten,
innigste Beziehungen atles Sichtbare
zu einer Einheit: Leben verschmelzen,
genügt seiner Sehnsucht nicht, die ihn
als tatigen, bestimmenden Bestandteil
in dieser gesammelten Fülle will.

Er will wissen, wie alles dies
zu diesem Eindruck „Leben" zusammen--
wirkt. And er studiert.

O, er hat einen offenen Kopf. Philo-
fophie, Iuristerei, Medizin, Theologie
durchforscht er nach dem Schlüssel des
Lebens. Er wird eine „Leuchte der
Wissenschaft". Sein tzirn ist ein unge-
heueres Nachschlagebuch geworden für
alles, was Gelehrtenfleiß in den Iahr-
hunderten zusammengetragen hat. Er
weiß fast alles, was Menschen ergrü-
belt haben.

Änd nun kommt das Große in ihn.
Die große Ehblichkeit und Treue zu
seiner Iugendsehnsuchl. Sein Herz ist
nicht über dem Nuhm seiner Gedächt-
niskraft gestorben. Er brüstet sich nicht
mit dem raffinierten Mechanismus sei«
ner Gehirnzellen. Obgleich er mehr
weiß, als seine gelehrten Kollegen, ruht
er nicht stolz wie sie auf dieser Händ-
 
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