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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1922)
DOI Artikel:
Liebscher, Artur: Vom rechten volkstümlichen Musizieren
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Wege zur Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0025

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wohl gelingeN) mit der Zeit die volkstümliche Musik langsam auf eine
Stufe zu heben, auf der sie engere Verbindung mit der Kunst gewirrnt,
als es im Volkslied geschieht. Mir scheint, die Mnsikergilde hat einen
recht gangbaren Weg dazu gefnnden. Ärtur Liebscher

Wege zur Dichtung

lle Bemühungen, der Allgemeinheit durch irgendwelche allgemeingül«

tige Maßnahmen und Veranstaltungen Einblick „in das Wesen der
^M^Kunst" zu verschaffeN) scheitern an einem Haupthindernis: der unab»
änderlichen und tiefliegenden Verschiedenheit der Menschen. Begabungen
und Sonderveranlagungen weisen nach allen WindrichtungeN) nnd die ge»
sellschaftlichen Unterschiede wirken darüber hinaus scheidend und unterschei-
dend. Es gibt nicht ein „Lesepublikum" schlechtweg) sondern zahlreiche Leser-
kreise, deren jeder ein ganz anderes Stück Kunst fordert und es ganz anders
genießt als der andere. Dieser vermag kein Gedicht mit Genuß zu lesen,
jener reagiert nur auf Sensationsromane, ein Dritter liest überhaupt nicht
gerne und sieht sich lieber ein Lustspiel an. Mit der Entscheidung für eine
bestimmte Kunstgattung ist meist schon die Art des Kunstgenusses angedeutet
und es sind Vermutungen möglich, ob etwa Geschlechtlichkeit) romantisches
Stimmungsbedürfnis) Neugier aus unterdrückter Mtivität, Freude am rein
Stofflichen oder ob ethische, ästhetische, metaphysische oder erkenntniskritische
Beweggründe in irgend einer der hundert möglichen inneren Verkettungen
die Auswahl des Lesestoffs und die Art seiner Aneignung bestimmen.

Diese Unterschiede werden nur selten und nie genügend beachtet. Sie
rein theoretisch festzustellen hilft ja auch nichts, solange man nicht weiß,
was der Einzelne braucht, und also auch nicht gruppieren kann. Aber selbst
wenn man es könnte) wäre noch nicht sehr viel gewonnen, denn es gibt
verschiedene Typen von Menschen, die mit ganz verschiedenen Organen auf-
nehmen, beispielsweise solche, die das gesprochene Wort am stärksten
beeindruckt, und andere — sie sind die Mehrzahl! — die das bedruckte
Blatt vor sich fehen müssen, um ein Gegenbild des Aufgenommenen in
sich erzeugen zu können.

Iener wird im günstigsten Falle durch eine gute Nezitation den
Eindruck von einer Dichtung vermittelt bekommen, dessen er gerade noch
fähig ist, im schlimmsten Falle wird ihm der mündliche Vortrag als Roh-
stoff dienen, der unverarbeitet bleibt oder in einer Weise „verwertet" <oder
entwertet) wird, die nichts mehr mit dem Kunstwerk selbst zu Lun hat. Besser
wird es vielleicht sein, wenn er die Dichtung selbst lspricht, allerdings nur
nach vorausgegangenem gründlichen Auswendiglernen ohne sinnentstellende
BetonungeN) die sich ohne sachkundige Anleitung leicht einstellen. Manch
ursprünglicher Mensch hat ein starkes Erlebnis durch die Gnade gleichsam,
das Kunstwerk schenkt sich ihm. Man kann fragen, ob er das richtige
Erlebnis hat — aber wer kann denn überhaupt sagen, daß seines unter den
zahllosen möglichen das „richtige" sei? Eines der stärksten Erlebnisse wird
dem Ursprünglichen sicherlich. Stumpfere Naturen vermag oftmals noch das
Theater für Minuten oder auch für kurze Stunden Zu erwecken, allein
schon durch die mannigfachen Spannungsmomente des künstlichen Lichts,
des bunten Bildes) der Kostüme, der Mimik, der Theatersprache, des Tempos
einer sinnfälligen Handlung und des körperlichen Reizes der Darstellenden.
Die schulmäßige Interpretation verfehlt ihr Ziel in den allermeisten Fällen

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