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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Kunst als Lebensmacht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0259

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Kunst als Lebensmacht

^^rgendwo nistet auch im zerrissensten und im beweglichsten Menschen der
^ t Wunsch nach Harmonischer Ausgeglichenheit des Daseins. Stetigkeit, Ord-
^Fnung, Regel, Freiheit von Sorgen sucht eine stete, oft verleugnete, oft
überbetonte Sehnsucht in uns allen. Und wer wollte leugnen, daß ein solches
Dasein günstige Vorbedingungen bietet für die reifsten und reinsten Entfal-
tungen unseres Wesens? tzaben Weise aller Zeiten die Besonnenheit ge-
priesen als edelste Lugend, wo ließe sie sich leichter und schwerer auf-
rechterhalten als im Kreise stetigen, geordneten und sorgenfreien Er»
lebens? Schweben fruchtbare Arbeit und frohe Geselligkeit uns vor als
erlebenswert, welchen günstigeren Boden könnten beide finden als die
ausgeglichene tzarmonie der täglichen Lebensführung?

Sinnlos und ungerecht wäre es, all dieses zu bestreiten. Indessen, wohl-
berechtigt ist die Frage, welches Opfer wir denn bringen dürfen, um zu har-
monischem Dasein zu gelangen. Denn Opfer fordert es! Leicht errungen ist
nur die tzarmonie eines gehaltlosen, erlebnisarmen, dünn strömenden Lebens.
Wie es leicht ist, „harmlose" junge Leute, Kasfeeschwestern und Kannegießer
zu „harmonischem" Kreise zusammen zu bringen in eine Geselligkeit, die über
Pfänderspiel und Tänzchen, Geschwätz und Banalitätew-Austausch hinaus
keinen Ehrgeiz hat. Schwer aber ist es, Menschen von Leidenschaft, Geist und
Persönlichkeitsgewicht zu vereinigen in fruchtbarer Gesellschaft. Warum?
weil wenig Gemeinsames, keine Abereinkunft, keine hohle Form sie bindet,
weil in solchem Kreise Leidenschaft gegen Leidenschaft, persönlicher Ausdrucks--
wille gegen persönlichen Ausdruckswillen, fruchtbare tzerrschsucht gegen frucht-
bare tzerrschsucht, geprägte Anschauung gegen geprägte Anschauung sich wen-
det, Streit naheliegt und nur Selbstbeherrschung und fester Wille zur Ach^
tung des Anderen und zum gemeinsamen Ziel den fruchtbringenden Streit
davor bewahrt, auszuarten in Erbitterung und Verwirrung. Ein Gleiches
aber spielt sich in unserm Innern ab. In uns selber widerstrebt etwas den
Formen und Geboten Harmonisch ausgeglichenen Daseins, in uns selber
treten dem Wunsch nach Stetigkeit, Ruhe, Klarheit und Aberblickbarkeit
des Lebens Wünsche entgegen, die auf ganz anderes mit Macht gerichtet sind.
Wünsche, denen das Lebensrecht abzusprechen wir nicht geneigt sind noch
ohne weiteres geneigt sein sollen. Triebe von elementarer Gewalt, deren
Befriedigung höchstes Glück, doch ganz anderes Glück als das der tzarmonie
verheißt, da die Befriedigung des einen die des andern ausschließt und alsa
verschiedene Triebe in uns miteinander kämpfen um unsere Zeit, um unsere
Ausmerksamkeit, tzingabe und Lebenskraft. Das „Glück^ des einen ist gleich*

Märzheft 192z (XXXVI, s)

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