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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 6 (Märzheft 1923)
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Bildnerei der Geisteskranken
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0277

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Klarheit tritt Prinzhorn solchem kindlichen Anterfangen entgegen, ohne
daß übrigens seines Werkes Ziel und Absicht auch nur im Geringsten die
Verteidigung einer „Richtung^ oder „Bewegung" wäre.

«n mehrfacher Richtung verbreitet er Klarheit. Sorgsamst zergliedernd,
<)löst er an der Hand von Hervorbringungen unzweifelhaft Geisteskranker
diejenigen Merkmale aus dem vielfältigen Zusammenhang, welche mehr oder
weniger gewiß den Schluß auf Geisteskrankheit erlauben. „Merkmale" ist
freilich fast schon zu viel gesagt; denn das gerade ist das Aberraschende,
daß, gemeinverständlich gesprochen, nahezu alle herauslösbaren Merk--
male der Geisteskranken-„Kunst" sich als solche auch in tzervorbringungen
Nicht-Geisteskranker finden — wie Prinzhorn überzeugend dartut —, daß
wir vielmehr Geisteskrankheit des Arhebers eines Werkes ganz vorwiegend
an einer besonderen „Gesamthaltuug" des Bildners, ja zuletzt wohl nur
an dieser erkennen können; und diese erschließt sich weniger der zergliedern-
den, mehr der einfühlend umfassenden Betrachtung. Die grauenhafte Ber-
einzelung, Weltentfremdetheit, Hinausverlorenheit der Kranken wirft ihren
Abglanz in ihre tzervorbringungen, und dieser „Abglanz" ist das entschei^
dende Merkmal. Was aber „ähnliche" Werke heutiger Künstler betrifft —
und es gibt unzweifelhaft eine Ahnlichkeit zwischen Geisteskrankenbildern
und starker Kunst; wie es von je eine allzu oft erwähnte, allzu selten geklärte
Ahnlichkeit zwischen Genie und „Wahnsinn", Künstlertum und „Besessenheit"
gab —, so sei Prinzhornjs kurzes Wort angeführt: „Ls ist oberflächlich und
falsch, aus Ahnlichkeit der äußeren Erscheinung Gleichheit der dahinter lie«
genden seelischen Zustände zu konstruieren. Der Schluß: dieser Maler malt
wie jener Geisteskranke, also ist er geisteskrank, ist keineswegs beweisender
und geistvoller als der andere: Pechstein, Heckel u. A. machen tzolzfiguren
wie Kamerunneger, also sind sie Kamerunneger. Wer zu so einfältigen Schlüs-
sen neigt, Hat keinen Anspruch, ernst genommen zu werden." — Tiefer leitet
ein andrer Lrkenntnisweg. Die Betrachtung der Geisteskranken und ihres
Schaffens legt sorgfältig-umsichtiger Prüfung, wie sie Prinzhorn gibt, Ge-
danken dieser Art nahe: Line zu Schöpfungen fähige Kernpotenz scheint in
unzähligen Menschen vorgebildet, ein unbeeinflußbarer Ablauf schöpferischen
Tuns, ein „originaler Gestaltungsdrang". And dieser wird in aller Regel
durch, ja wodurch?, verschütLet; Prinzhorn sagt: durch die zivilisatorische Ent-
wicklung; womit wohl neben Schule und Beruf die gesamte lVerumständung
des zweckhaften Gesellschaftslebens gemeint ist, welche ganz andere Innen-
kräfte zu ganz anderen Aufgaben hervorlockt und steigert als die Kunst er-
fordert ,und stärkt. Von solcher Meinung her erscheint eine lWendung der
Kunst, wie wir sie erlebten als ein Sich-Loslösen der iKünstler aus Gesell-
schaft- und Zeitbindungen mit allen Folgen so reißenden inneren Ver-
haltens.

^>rinzhorns Buch gilt übrigens nicht grundsätzlich und vorwiegend Zeit-
^fragen. Es ist „ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der
Gestaltung." Will sagen: Systemisierung, Zergliederung, Vergleichung und
Eingliederung der Werke der Geisteskranken dient hier dazu, das Wesent^-
liche, und zwar alles WesenLliche des künstlerischen und allgemeimmensch«
lichen Schaffensvorgangs weithin bloßzulegen. Das Vorgehen ist ähnlich
dem eines Arztes früherer Epochen: nur beim Kranken war der Schnitt ins
Innere des Leibes möglich, da nur bei ihm erlaubt, und nichts war lehr-
reicher als dieser Eingrifs in das Anbekannte. So ermöglicht Prinzhornj
die Geisteskrankheit, welche klinischer, langer Beobachtung so zugänglich ist,

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