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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1922)
DOI article:
Fischer, Eugen Kurt: Wege zur Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0027

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bereitzustellen und aufzuzeigen. Wir sind bis heute gewöhnt, Dichtungen
als Einheiten zu betrachten. Wir iordnen sie als Ganzes in Gruppen, etwa
historische Erzählungen, Bauernromane, Großstadtnovellen, aber wir haben
keine Hilfsmittel, oder so gut wie keine, die dem breiteren Publikum zergen:
hier findest du — mitten in einem Großstadtroman — die vollkommenste
Schilderung eines Frühlingstages auf dem Lande, hier verbirgt sich in einem
Liebesroman eine tzundegeschichte, die zu den besten dichterischen Tierdar-
stellungen gehört, hier findest du den schwäbischen Bauern geschildert, dort
wird ein Bild der achtundvierziger Tage entrollt, dort triffst du die beste
Schilderung der Schauspielerpsyche, dort ist die Soziologie der Großstadt Un-
tergrund eines erkenntnisreichen Buches, dieser Band Lyrik verkündet das
Lebensgefühl des Menschen um die Iahrhundertwende und jene Dramen
beleuchten das Vater« und Sohnproblem der Gegenwart von den verschie»
densten Seiten. Es sollen also die Dichtungen zum Zwecke einer motivischen
Katalogisierung in ihre stofflichen Bestandteile aufgelöst werden, die dann,
in zahllose Gruppen neu geordnet, ein Kompendium aller geistigen Inhalte
zusammen ergeben. Die Äberschriften der Gruppen sind das Inhaltsver«
zeichnis enropäischen Geisteslebensi geordnet nach den Interessenkomplexen
der verschiedenen geistigen Typen. Da wird in der Gruppierung Rücksicht
genommen auf das'„Niveau" des Lesers, also auf das Maß seiner Aufnahme»
bereitschaft, seine Grundveranlagung fällt ins Gewicht, sein Temperament,
seine durch Beruf oder gesellschaftliche Position bedingte Interessensphäre,
seine besonderen Neigungen, Steckenpferde, Lieblingsobjekte. Weiter ist der
verschiedensten Lebenslagen gedacht, in die ein Mensch geraten kann: für
Krankheit und für einzelne Krankheiten, für soziale, nationale Notlagen,
für Situationen gesteigerten Lebensgefühls sind besondere Literaturgruppen
zusammengestellt, ebenso für verschiedene Amgebungen des Lesers — auf dem
Lande liest sich dieses Buch besser, in der Stadt jenes. Auch die Dichtungs»
gattungen werden dauernd berücksichtigt innerhalb der Gruppen. Weiter
wird dem Bildungsdrange d e r Leser Rechnung getragen, die auch im unter-
haltenden Buch lernen wollen, die ihr Bild von geschichtlichen, sozialen,
naturwissenschaftlichen, religiösen Dingen vertiefen wollen. tzier wird ein
großer Teil der dichterischen Gestaltungen großer Persönlichkeiten einzu--
reihen sein, an deren Schicksal und Leistung derlei besonders deutlich wird.
Den einzelnen Listen sollten Erklärungen beigegeben sein, die dem Leser
eine schärfere Einstellung geben zu dem, was er selber will und was das
Buch gibt, Erklärungen, die ihn zu formulieren zwingen.

Auch der Gelehrte, dem stoffgeschichLliche Forschung immer wichtiger wird,
kann einen solchen Katalog als tzilfsmittel sehr wohl brauchen. Freilich muß
seiner vollständiger sein als der des Laien, der auf guter, sachkundiger Aus-
wahl beruht und letzten Endes ja doch nur ein kritisches Exzerpt aus den
Listen des Forschers darstellt, der die ganze ungeheure Sammel-, Sicht- und
Einordnungsarbeit leisten muß. Das Lrgebnis für ihn wird aber auch sehr
bedeutend sein: die endliche Gewinnung der wichtigsten Bausteine für
eine Geistesgeschichte, die erst dann geschaffen werden kann, wenn die Auf«
lösung der Dichtungen in ihre motivischen und formalen Bestandteile, ihre
Psychologischen und soziologischen Elemente in breitem Stil durchgeführt ist.
Doch dies nur nebenbei, damit deutlich werde, wie auf dem Gipfel unpopu«
lärer Fachwissenschaft der Forscher mit uns zum tzelfer des Lesewarts und
bamit mittelbar zum Volkserzieher wird.

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