Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1922)
DOI article:
Fuchs, Emil: Eine Woche in London
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0056

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ordnung und wirtschaftlichen Ordnung des vorhandenen Lebens. Das würde
jeder wertvolle deutsche Arbeiter mit Hohn ablehnen. Was wir tun können
ist nur, den Arbeiter zu schulen, daß er seine in ihm ringenden, gärenden
Ideale bewußt, klar erfassen und sehen, ihre Bedeutung fürs Leben begreifen,
sie zu organisatorischer Kraft fürs Leben gestalten kann. — Ie länger die
Verhandlungen dauerten, desto deutlicher wurde es uns, daß wir in all un«
sern Trümmern im Werden einer ganz neuen, andersartigen Welt stehen.
— Der Stolz stieg auf — und auch die andern empfanden es. — Nicht alle.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, in der Debatte oder während des Vor-
trages das Staunen zu fühlen, das die Mehrzahl der Versammlung als
einzige Reaktion auf diese Gedanken hatte. Aber dann kamen die Linzelnen,
Nachdenklicheren, Iüngeren und sprachen das aus, was einer am deut-
lichsten formulierte: „Fast möchte man Sie in Deutschland beneiden um
das Miterleben und Mitschaffen eines ganz neuen Lebens, das wir nicht
haben können, weil über uns die Katastrophe nicht hingegangen ist". —
Das sind die, die ^in andern Ländern mit 'ihrer Liebe nach Deutschland schauen
und unsern schweren Daseinskampf mit Aufmerksamkeit begleiten.

Was ist das werdende Deutschland? — Derselbe Amerikaner (George
Albert Bellamy, Cleveland, Ohio), der in seinem Vortrag über die Bedeu-
'tung der Spiele für die Charakterentwicklung des Menschen zeigte, was
die Spiele für England bedeuten, sprach auch davon, was für Deutschland
das Turnen ist. tzier ist die Disziplin des Körpers und der Gesamtheit das
Lntscheidende. Lntspricht es nicht wirklich dem deutschen Charakter, daß ihm
Linordnung das Sittlrch^Wichtige ist? Gewiß, Ordnung setzt immer auch
Führung voraus. Aber es ist doch ein Ilnterschied, wie in den beiden ver-
wandten Völkern dieser Gedanke betont wird. Vielleicht ist die letzte Wurzel
des Rnterschieds, daß wir ein Bauernvolk sind, seit Iahrtausenden, Lngland
ein Seevolk. Seevolk bedeutet das gruppenhafte Zusammengehören in Ge-
fahren und Nöten unter einem Führer. Ganz fein ist die Bedeutung für
das Volksleben geschildert in Kingsleys Roman „Westward to". Bauern-
leben meint Nebeneinanderstehen, Nebeneinanderarbeiten, kein Wettkampf,
sondern ein Nebeneinander und doch ein Zusammengehören in gemein-
samer Ordnung, Rechtsgefühl und Rechtsordnung. Führer ist hier der, der
in innigster Verbundenheit mit dem Ganzen dieser Gemeinschaftsordnung
den stärksten Ausdruck und stärkste Wirkung gibt. — Vielleicht ist die Zer-
setzung unserer sittlichen Welt Mitbedingt dadurch, daß wir ein wirtschaftliches
System notgedrungen übernahmen, dessen Kennzeichen die Leidenschaft ist,
sich über die andern zu erheben, sie zu übertreffen, sie zu besiegen. Die
angelsächsische Welt hat als Gegengewicht jene Vornehmheit des Siegen-
den, des Führers und die Verbundenheit, die er gerade als tzerr und Führer
empfindet, wie es beim Seehelden seiner Mannschaft gegenüber ist und sein
muß. Im Bauernvolk muß der, der die andern so unter sich haben will,
so viel innere Verbundenheit, jenes ganze innere Miterleben in der Ge-
meinschaft, im Nebeneinander erst abstreifen, daß keine sittlichen Feinheiten
und tzemmungen mehr bleiben, wenn er die äußere tzerrscherstellung erreicht
yat. — Ls ist kein Iufall, daß bei uns immer ein starker konservativer Sozi-
alismus bestand und besteht. Ansere Zukunft ruht darin, eine Form des
wirtschaftlichen Lebens, des Staatslebens zu finden, in dem dieses Neben-
einander, dies innere Verbundensein aller in gleichem Wert und gleicher
innerer Selbständigkeit zum Ausdruck kommt und sittliche Grundlage ist.
— Wenn das geschieht, wächst aber in Deutschland jene neue Welt, die

38
 
Annotationen