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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

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Heft 4 (Januarheft 1923)
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Kuntze, Friedrich: Diltheys gesammelte Schriften
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0179

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lächelnd zuhörte mit den Mienen eines Mannes, der den ganzen Spielraum
unserer jugendlichen wissenschaftlichen Phantasie lange durchlaufen und lange
hinter sich hatte, wenn er, der Schreck aller Drucker und Verleger, vor seineu
engeren Mitarbeitern eine fertige Korrektur nochmals in Späne zerfeilte
und umschmolz. Und wissenschaftlich geheimnisvoll war er auch. Indessen war
er damals personal wie sachlich nicht der einzige Geheimnisvolle,- neben ihm
standen, bereits dem akademischen Leben entzogen, zwei andere, Wiener,
der gelähmte Mach und der blinde Brentano.

Ich glaube, diese drei wären einigermaßen überrascht gewesen von der
Kunbe, daß sie von vielen als so etwas wie eine Wirkungseinheit empfunden
wurden, und in der Tat ist dies ja auch, wenn man nur auf den Inhalt
ihrer Lehre sieht, paradox genug. Vielleicht ist es aber auch wiederum nicht
bloß eine chronologische Zufälligkeit — ihr Lod fiel in dieselbe Dekade —
daß jetzt, der Ungunst der Zeit zum Trotz, eifrig an einer möglichst vollstän«
digen und durchfichtigen Ausgabe ihrer Werke gearbeitet wird.

Es lag etwas von Tyrannei in der Art, wie damals die mathematische An«
sicht der Welt den Geistern sich auferlegte — übrigens eine wohltätige Ty-
rannei, der man sich nur zum eignen Schaden entziehen konnte. Riehl,
Cohen, Natorp, tzusserl hielten durchaus auf mathematische Schulung ihres
Kreises; als Fachmann konnte man nicht auf der tzöhe bleiben, ohne zu ver-
stehen, was die neuen Gedanken der tzenri PoincarS) Frege, Russel, Enri-
ques, Cantor, tzilbert, usw. wollten. Aber man trieb schließlich als Philo-
soph Mathematik, und so sammelte sich das Interesse bald um dasProblem,
was doch jene eigentümliche Formung gewisser Sinnesdaten eigentlich be»
deute, die man die mathematische Behandlung der Batur--
wissenschaft nennt. Hier eben fand man große, metaphysische Bebel zer»
streuende Belehrung bei Mach, hier setzte um die Wende desIahrhunderts,
von Frankreich her, tzenri Poincarä ein. Man entnahm: auch die mathema-
tische Formung der Wirklichkeit statuiert nicht eine neue, objektiv reale
Welt, die hinter der unsrigen liegt; sie gibt nur eine, innerhalb gewisser
Grenzen genaue, Beschreibung der Erscheinungen. Die Formgestalten weiter,
in denen diese Beschreibung geschieht, bilden nicht eine feststehende Mitgift
unseres Geistes, zu der, durch irgend ein Wunder, die Erscheinungen irgend
ein Beispiel geben, nein, diese Formgestalten sind selbst innerhalb gewisser
Grenzen abwandelbar, und die schließliche Wahl unter ihnen wird getroffen
nach dem Gesichtspunkte — der Bequemlichkeit. Rnd merkwürdig: ganz
ähnlich wie der nachdenkende Mathematiker scheint die Batur vorgedacht zu
haben; es lassen sich ja bekanntlich die meisten Naturgesetze auf ein Mini-
mumprinzip bringen. Iwei große Fragen mußten sich erheben. Erstens: sind
diese mathematischen Formungstypen der „Wirklichkeit" die einzigen, oder
gibt es neben ihnen noch andere und welche? Zweitens: gibt es eine mög«
liche Wissenschaft von der Einheit der Beziehungen, die der menschliche Geist
zwischen seinen primären Daten aufstellen kann (gesetzt, es gäbe solche) und
eine Typsierung dieser Beziehungen? Der zweite Problemkreis ist das große
Reich Brentanos, für die „descriptive Psychologie" eine zu enge, „Er-
kenntnistheorie" eine irreführende Bezeichnung ist; am nächsten möchte die
tzusserlsche Bezeichnung „Wissenschaft von Lheorie überhaupt als allge-
meine Mannigfaltigkeitslehre^ kommen. — Auf das erste Problem hatte
Dilthey eineAntwort gegeben, lang ehe es in diesem Zusammenhang ge-
stellt werden konnte. So hatten wir also damals eine gewisse Rrsache, irgend
eine geistesgeschichtlich übergreifende Einheit in diesen drei Erscheinungen
 
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