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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI issue:
Heft 5 (Februarheft 1923)
DOI article:
Whitman, Walt: Gedichte von Walt Whitman
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0234

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Sprache schon einzigartig waren, erweckten den Deutschen zn einem Schaffen,
das sogar für die deutsche Dichtung ein neues Vorbild bedeutet.

Es ift wie ein Wunder. Plötzlich steht in zwei Bänden ein Riese da,
Arwelt-Mensch mit Brtung und Gesühlen der Vorzeit, Iung«Amerikaner
zugleich mit aller Gegenwart der Demokratie und Zukunft der Menschheit
im Blut^ erdentsprossen und vom Hauch des Bodens umwittert, hindurch«
gegangen durch die Gedankengebäude der alten, älteren, neuen Zeit, und
doch Kind der Erde geblieben; zart wie ein bloßgelegtes Rervensystem
und trotzig und fest wie der Eisenbetonbau eines jener amerikanischen
Ingenieure; Prophet, Seelenmensch, Wortegeber für alles, alles Schweü-
gende, da alles ihm Erlebnis wird, und dennoch verhalten bis zum Schwei«
gen hin. Klug, im Denken tief erfahren und seines Denkerwerts sich be-
wußt, doch kaum je, eigentlich nur im scheuen Vorbeigehen, ein Verkünder
des Gedachten in Worten. Leibhaft, ganz leibhaft und leibfroh, sinne-
trunken und erlebnisüberfüllt, doch zugleich Ahner und Wisser von ällem,
was nur dem Stillsten offenbar wird. Weit mehr als alle Worte von
„Impressionist", „Künder des modernen Lebens", „Neu-Töner" usw. sagen
können, nämlich in Wahrheit der erste Schauende des neuen Weltbildes,
welches in dem jungen plumpen Amerika sich vorbereitet und zugleich
der Schauende des Ewigen in allem, des Ewigen, das sich allen Großen
erschloß : ein Mittlerer zwischen Iesus und Platon hier und den Gewaltigen,
welche im Amerika kommender Iahrtausende geboren werden sollen. Worte
sassen ihn kaum; doch unmittelbar schreitet er nun an der tzand Reisigers
jedenr Empfänglichen ins tzerz liebenswert und kraftausstrahlend wie kaum
einer der müden Europäer, die ihm verwandt waren von Metzsche bis zu
Ibsen oder Tolstoj.

Reisigers Ausgabe bringt, außer der Fülle der stärksten Gedichte Whit-
mans (233 ^S.), eine Anzahl beglückend reiner Tagebuchstellen, einige
kurze Notizen, philosophische Aufsätze von urwüchsiger kritischer 5^raft
und intuitivem Verstehen, vor allem aber den glänzenden Essay über
Demokratie, der die einzige ernste Philosophie der Demokratie ist, die
wir bisher haben. Eingeleitet ist der Band mit einer Biographie Whit-
mans: sie gehört mit dem lebhaften Feinsinn der Schilderung und der
wohlgeprägten Kraft ihrer Sprache wie mit dem reifen Weitblick der Ge-
samtausfassung zu den schönsten Dichterbiographien ganzer Iahrzehnte.^

Ein Gesang der Freuden

O zu dichten den jubelndsten Gesang,

Voller Musik, — voller Mannheit, Weibheit, Kindheit!

Voller Alltagstun, — voller Korn und Bäumen.

O die Stimmen der Tiere, — o die Geschwindigkeit und das Gleichgewicht

! der Fische!

O das Fallen der Regentropfen in einem Liede!

O Sonnenschein und Wellenschlag in einem Liede!

O die Lust meines Geistes, — er ist uneingesperrt, — schießt hin wie Blitze!
Es ist nicht genug, diesen Erdball zu haben und eine Spanne Zeit,

Tausend Erdkugeln will ich haben und alle Zeit!

lW

Achtundzwanzig junge Männer baden an der Küste,

Achtundzwanzig junge Männer und alle gut Freund;

Achtundzwanzlg Iahre weiblichen Lebens und alle so einsam.
 
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