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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Kunst als Lebensmacht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0262

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„Tell" keine nnregende Rhetorik; werde ich nicht inne, daß hier ein menschheit«
wollender Dichter todbereit mit den größten Ideen des Lebens blutend rang,
so ist die Aufführung läppisch und der Abend vertan. Reißt Loewes Ballade
mrch nicht zu Tränen und Iubel hin, dann weg damit! Lieber ist mir die
Nähmamsell, die beim Kerzenlicht am tzintertreppenroman ihr Herz entzündet
und in Schauern vergeht, als der harmonische Leser, der fern vom Schuß
die Leiden eines Schülers aus Romanen mit ästhetischem Verständnis zur
Kenntnis nimmt. Dort wird wenigstens Kraftähnliches geweckt, obzwar durch
Irrsal und nach unfruchtbarer Richtung, hier aber wird Leben vergeudet.
Vortrefflich, daß wir tzausrat und Hausschmuck aus dem Bezirk des Fabrik-
schundes emporhoben, wichtiger aber, daß wir die Ideale des Gefälligen und
Geschmackvollen, die allenfalls erreicht, mindestens erreichbar wurden, abtun
zugunster. des Ideals, daß unsere Amgebung Ausdruck unserer reinsten
Kräfte, Widerhall unseres stärksten Wesens und geeignete Umwelt zu groß-
erlebtem Leben werde.

Kunst aber — vielleicht muß sie nicht sern! Vielleicht können Zehntau-
sende sie entbehren und reden sich Zehntausende das Gegenteil nur ein.
Wenn sie aber in unser Leben tritt, so fordert sie, um die hundert Mal
blühendes Leben sich opferte, die tausendmal unter Qualen der Besessenheit
geboren ward, innerste tzingabe und restlosen Dienst. Ist sie echt, so will sie
nicht belustigen noch unterhalten, nicht belehren noch zieren, nicht zu irgend
etwas sonst auch Auffindbarem hinführen, noch irgendetwas außer ihr dar-
bieten. tzabt ihr je einen Menschen geliebt? Ia? Dann erinnert euch, daß
ihr auch durch ihn nicht euer Leben verangenehmern und verzieren zu lassen
begehrtet, sondern daß er euer Kernwesen aus euch zur tzingabe herausl-
forderte, daß ihr euch verschenktet und mit dem Geheimnis des andern Ichs
beschenkt wurdet zu tausendfach erhöhtem Dasein. In jedem Kunstwerk, das
Aufmerksamkeit verdient, Gedicht oder Bild, Sonate oder Drama, wartet eine
große, feurige, weltweite Seele auf eure Liebe, bereit, euch zu empfangen
und sich euch abermals zu schenken „zu tausendfach erhöhtem Dasein" im
Zeichen des Dämons, der den einen schaffen, den andern Geschaffenes in
sich saugen Hieß!

Furcht antwortet solchem Verlangen: Ich werde verzehrt werden! Anruhe
wird einbrechen in meinen Lebensgarten. — Das ist wahr. And mehr. Morgen
wird Geschlechtslust dich verzehren und übermorgen Liebe, am dritten Tag
Erkenntnis und am vierten Machterwerb. Äberstehst du aber die Lägliche Er-
probung, so wirst du am fünften Morgen in der Nußschale sitzen, das Steuer
in der Faust, und die sturmgepeitschte See wird deinem Blick blanker Spiegel
aller tzerrlichkeit der Erde sein, geheimnisvoll am lichten Tag. Die Dämonen
kämpfen um uns in uns. Den Kampf nicht scheuen, ihn suchen und über-
stehen, ihn mit Besonnenheit, doch ohne schwächliches Ausweichen ordnen,
soweit das vergönnt sein mag, ohne daß seine Gewalt schwindet — das
heißt eine tzarmonie erringen, die wert des Erlebens ist. Anter den Lebens-
mächten aber, die im ewigen Kampf untereinander liegen auf dem Schlachtfeld
unseres Inneren, ist Kunst der stärksten eine. Seltsam und befremdend ist
das Spiel, das allzu oft mit ihr getrieben wird: Dynamit und Feuerbrandi
als Verdauungsmittel oder Domino-Ersatz. Zuweilen rächt sie si(ch bringt
Verwirrung und Entkräftung dem, der zu schwach ist, sich ihr restlos zu
schenken; doch verheißt sie Höchstes Leben dem, der es vermag. Tragik ist
ihr Zeichen; mit Erschütterung und Leidenschaft glüht sie die Seele zu
Stahl. Sch

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