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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI issue:
Heft 6 (Märzheft 1923)
DOI article:
Fischer, Eugen Kurt: Zur neuen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0264

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ler und dre Philosophen. Sie kreisen um eine fiktive Achse und die Fiktion
ist bei den meisten eine einmalige und einzige. Sie empfangen — heute —
das Gesetz ihres Schaffens nicht von der Gemeinschaft, sondern aus sich
selbst. Sie verlängern die Grundlinien ihrer geistigen Veranlagung mehr
oder minder willkürlich über sich selbst hinaus und laufen dadurch Ge-
fahr, sich eines Tages wundern zu müssen, wie Wenige nur das
so entstandene Bild überhaupt zu sehen vermögen. Die bloße Ich-
gebundenheit dieser Atopik, Kunst und Philosophie macht ihre Be-
grenzung aus, die durch das zeitgemäße Gegenmittel buchhändle-
rischer Propagierung nur unzureichend bekämpft wird: es besteht für
den Bürger Müller keinerlei Botwendigkeit, zu lesen, was der Literat
Schmidt schrieb, denn nichts nimmt im Opus des Literaten Bezug auf Le-
benswerte des Bürgers Müller. Genau so ist es mit dem Philosophen,
der stricktem „Konszientialismus" oder Idealismus huldigt, dem Erkennen
ohne lebendiges Bezugsobjekt also: keiner wird ihn Hindern, keinem aber
auch ist er notwendig. Beim Atopisten liegt der Fall nur scheinbar anders:der
Bürger Müller wird ihm eine Zeitlang folgen, voll Sehnsucht, bis er merkt,
daß er nicht seinem eigenen Mittelpunkt zugeführt wird, sondern einem
fremden. Da schwindelt den Dezentrierten und er hält ein. Einzig die Ro-
manfabrikänten und der verbreitetste Typus der Zeitungsschreiber „arbeiten"
für eine Vielzahl von Menschen, doch nicht für Persönlichkeiten, sondern
für eine geistig und seelisch einförmige, durch Mechanisierung völlig ver-
eiuförmige Masse. Kino, Operette, Pariser Schwank, die durchschnittliche
Wahlrede und der Militarismus im letzten Stadium, auch als Kapitalis-
mus und Sozialismus, sind ähnlich allgültige Brücken zwischen Angehöri^
gen der Nur-Zivilisation, deren geistige Exponenten allsogleich zu Trägern
von Ismen jeder Art erstarren. Kurz, es ist im Geistesleben wie auf dem
Warenmarkt. Massenartikel fürs „Volk" (im minderen Sinn des so stolzen
Wortes), Ldelware (Kunsthandwerk, Dichtung) für die Wenigen, die auf
unsichtbaren Inseln Zerstreuten, die Problematischen, denen zur äußer-
lichen Achse, die beim „Proleten" Klassenkampf, bei „Bourgeois" Profit
heißt, auch noch die innere fehlt, man sehe sie denn in ihrer Sehnsucht, in
ihrem rührend dunklen Drange ins Blaue hinein, der sich das Modewort
„schöpferisch" schuf. Diese Wenigen also, die völlig Entwurzelten, sind zu-
nächst das Publiküm der Kunstschaffenden, weil diese eben nicht mehr wie
ehedem Exponenten der Gemeinschaft, sondern nur mehr Exponenten der>
über die Gemeinschaft hinweggeschrittenen Lntwicklung sind, der Entwicklung
ins Unpersönliche, ins rein funktionale Lrlebnis. Man kann die heutigen
Dramen fast alle ohne Seele spielen, Gestus, Irritabilität, Dynamik beim
Schauspieler, Rhythmisierung des Bühnenbildes und seine Ausleuchtung
von Seiten der Regie genügen, eine zureichende Aufführung fast jedes
Stückes von Kaiser oder Goering, von Hasenclever oder Iohst rlnd noch
vielen anderen herauszubringen. Schon die Lieblingsworte der wesentlich zu
einer Regieangelegenheit gewordenen Zeitkunst: Rhythmus und Dynamik,
zeugen für die Entseelung dieser Kunst, die mit Tempo und Geste alles machen
kann, allerdings besser im Drama als in den andern Gattungen. Diese sind,
deshalb auch konservativer geblieben, der Roman und die Novelle we^
sentlich realistisch-psychologisch-episodenfreudig, die Lyrik wesentlich impres-
sionistisch, was zugleich ihrem Wesen und dem seelischen Verflüchtigungs-
zustand um die IahrhunderLwende entsprach. Populär blieb, und viel ge-
kauft, allein der Roman, weil man ihn, auch wenn er Kunstwerk war und


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